Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

V. Kirchen und Staat. 319 
Gedanken dieses Systems läßt sich daher praktisch nur im Rahmen des Systems 
der Kirchenhoheit, und zwar durch den rechtlich geschützten Einfluß des 
Christentums auf Staats- und Volksleben berücksichtigen. Wie weitgehend 
dies in der deutschen Gesetzgebung geschehen sei, hat schon die positiv recht- 
liche Darstellung gezeigt. 
Der Katholizismus hat mit der Idee des interkonfessionell christlichen Koordinations- 
Staates nichts anfangen können. Denn er versteht unter Christentum das ‚heorie, 
konfessionell Katholische. Er hat daher ratione temporum habita im 19. Jahr- 
hundert eine andere Verhältnisform von Staat und Kirche dargeboten. Beide 
seien koordinierte, rechtlich gleichgeordnete souveräne Gemeinschaften: Koor- 
dinationstheorie. Daher Wegfall der Kirchenhoheit, soweit sie Staats- 
aufsicht ist. Wegfall der Grenzregulierung von Staat und Kirche durch ein- 
seitige und souveräne Staatsgesetzgebung. Soweit es Grenzgebiete zwischen 
ihnen überhaupt zu regeln gibt, geschehe diese Regelung im Wege des Ver- 
trags. Daher sind Konkordate der sprechende Ausdruck des Systems. Die 
praktische Bedeutung der Sache liegt darin, daß dieses System vor allem das 
Programm des gegenwärtigen politischen Katholizismus in Deutschland 
geworden ist. Hier hat es sich mit sichtbarem Erfolg im preußischen kirchen- 
politischen Konflikt der siebziger Jahre, in dem nichtssagend sogenannten 
„Kulturkampf‘‘, zur Geltung gebracht, dessen scharfe Spannung in dem Augen- 
blick gelöst war, von welchem an zwecks Revision der Maigesetze ‚‚Vertrags- 
verhandlungen‘‘ mit Rom eingeleitet wurden. Ebenso beruhte der wesentliche 
Teil des sog. Toleranzantrags des Zentrums vom 23. November 1900 auf dem 
Anspruch der Koordination. ‚Wir wollen von Reichsgesetzgebungs wegen die 
Staatskirchenhoheit beseitigt wissen‘‘ (Dr. Lieber). Eine folgerichtige 
Durchführung dieses Systems würde schon deshalb unmöglich sein, weil sein 
Bestand die Parität ausschließen würde. Es ist aber auch aus den tiefsten 
prinzipiellen Gründen abzulehnen. Die Kirche ist stiftungsgemäß nicht eine 
dem Staat aequal zu setzende Rechts- und Machtanstalt. Rechtliche Be- 
herrschung kann ihr nur als Mittel zur Verwirklichung ihrer transzendentalen 
Zwecke, nicht als Selbstzweck zuzugestehen sein. Über vereinzelte Erfolge 
konnte es daher auch dieses System nicht hinausbringen. Selbst in der recht- 
lichen Behandlung der Konkordate haben es die Staaten nicht voll anzuerkennen 
vermocht. Jene erlangten Geltung überall nur nach Maßgabe der sie begleiten- 
den und einschränkenden Staatsgesetze: so das durch Staatsgesetz vom 9. De- 
zember 1905 aufgehobene französische vom 15. Juli 1801 nach Maßgabe der 
organischen Artikel vom 8. April 1802, das bayerische vom 5. Juni 1817 nach 
Maßgabe des Religionsedikts vom 26. Mai 1818, das 1870 wieder gekündigte 
österreichische vom 18. August 1855 nach Maßgabe des kaiserlichen Patents 
vom 5. November 1855. 
So hat sich im Kampf mit diesen Vorstellungsreihen über das Verhältnis Durchbruch und 
von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert je länger je mehr das System der chi an FR 
Kirchenhoheit in Gesetzgebung und Staatspraxis, Wissenschaft und all- Systems der 
gemeinem Rechtsbewußtsein durchgesetzt. Unendlich mannigfaltig ist seine Kirchenhoheit
	        
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