320 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
positiv rechtliche Ausbildung in den deutschen Staaten gestaltet. Die an die
Spitze gestellte Übersicht gibt einen ungefähren Eindruck von dem geltenden
Recht. Sein berechtigter prinzipieller Grundgedanke ist: Staat und Kirche
sind organisatorisch und funktionell so weit voneinander zu scheiden,
als dies durch die Verschiedenartigkeit ihres Wesens bedingt ist; sie
bleiben verbunden, soweit letzteres nicht der Fall und die Verbindung
durch die Bedürfnisse von Staat und Kirche erfordert wird. Für die recht-
liche Anwendung des Prinzips ergeben sich folgende allgemeine Begriffs-
merkmale. ı. Parität in dem oben (s. IVı) entwickelten dreifachen Sinn.
Für ihre Handhabung hat die Norm zu gelten, daß sie sich nicht allen Kirchen-
und Religionsgesellschaften gegenüber nach dem Grundsatze abstrakter
Gleichheit betätigen darf. Vielmehr wird eben die Vernunft und Gerechtig-
keit ihrer Handhabung darin bestehen, daß Gesetzgebung und Verwaltung
die einzelnen Kirchen- und Religionsgesellschaften nach ihrer öffentlichen Be-
deutung, nach ihren Machtmitteln, sowie nach ihrer prinzipiellen und geschicht-
lichen Stellung zum Staate spezifisch differenzieren. Insbesondere kommt
im Verhältnis des Staates zu katholischer und evangelischer Kirche in Betracht,
daß letztere bereits unter der viel weiter gehenden landesherrlichen Kirchen-
gewalt steht, und daß aus eben diesem Grunde ihr gegenüber manche selbst-
ständige Äußerungen der Kirchenhoheit entbehrt werden können, ohne daß
darin ein berechtigter Grund zu Beschwerden über Imparität gelegen ist.
2. Der Grundsatz der Bekenntnisfreiheit nach ihren beiden Erscheinungs-
formen; der individuellen Gewissensfreiheit und der gesellschaftlichen Kultus-
freiheit. Die selbstverständlichen Grenzen für jene liegen im Gebiet der bürger-
lichen Pflichten. Die Schranken für diese ergeben sich aus dem oben dar-
gelegten Reformationsrecht des Staates. 3. Der Grundsatz der materiellen
Selbständigkeit der Kirchen- und Religionsgesellschaften in ihren inneren
Angelegenheiten, also namentlich in Kirchengesetzgebung, Kirchenlehre und
internem Kultus. Eine aktuelle Mitwirkung des Staates findet hier, als auf
einem seinem Wesen grundsätzlich fremden Gebiete, nicht statt. Er muß sich
darauf beschränken, staatsbedenkliche Einflüsse von Lehre und Kultus auf
das bürgerliche Gebiet abzuwehren. 4. Der Grundsatz der Staatsaufsicht
in sog. gemischten Angelegenheiten. Es sind solche, welche wohl an sich
zu den Funktionen der Kirchenregierung gehören, gleichwohl aber eine tat-
sächliche und darum unvermeidliche Beziehung zum Staate haben. Dahin
gehören mindestens und notwendig: der "Kultus in seinen äußerlichen Be-
ziehungen zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit (Prozessionen, Begräbnisse usw.);
das kirchliche Ämterwesen mit Rücksicht auf die Staatsleistungen, auf die
Ordnung der Zuständigkeitsverhältnisse im Verhältnis zu Staatsbehörden, auf
die öffentlich rechtliche Stellung und die dadurch bedingte Beteiligung des
Staates an Vorbildung und Anstellung der Kirchenbeamten; ferner Kirchen-
disziplin und Kirchenzucht mit Rücksicht auf den Schutz der bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Freiheit der Staatsangehörigen; sodann das kirchliche
Vereins-(Ordens-)Wesen mit Rücksicht auf die Stellung der religiösen Ge-