Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

326 WILHELM Kan: Kirchenrecht. 
trägen irgendwelcher Art, deren Auslegung und Durchführung jederzeit nur die 
Quelle zahlloser Irrungen und Mißverständnisse gewesen ist, paktiert werden. 
Die Theorie des Staatschristentums kann niemals als selbständige Ver- 
hältnisform von Staat und Kirche etabliert, wohl aber muß ihr unverlierbarer 
Wahrheitsgehalt im Rahmen des Systems der Kirchenhoheit bei der staatlichen 
Advokatie über die Kirchen und ihrer Beteiligung an den Aufgaben der Staats- 
pflege weitblickend und hochherzig verwertet werden. Der Ausbau des herr- 
schenden Systems der Kirchenhoheit selbst endlich ist nach seinen Grund- 
prinzipien in der Art fortzuführen, daß individuelle Gewissensfreiheit und gesell- 
schaftliche Kultusfreiheit in dem weitesten, mit den bürgerlichen Pflichten 
und dem Staatswohl vereinbarlichen Maße gewährleistet, die Selbständigkeit 
der Kirchen auf ihrem inneren und eigenen Lebensgebiete gewissenhaft respek- 
tiert, die Staatsaufsicht anderseits auf dem ihr gesetzlich begrenzten Gebiete 
der gemischten Angelegenheiten mit Ernst und Konsequenz gehandhabt, endlich 
die Parität unter dem Gesichtspunkte gerechter Differenzierung der Kirchen 
und Religionsgesellschaften aufrecht erhalten werden. 
In allem aber muß es das besondere Ziel der Kirchenpolitik sein, einen 
klaren Boden für die Verhältnisordnung von Staat und Kirchen in Deutsch- 
land zu gewinnen und zu behaupten. In Gesetzgebung und Praxis fließen Be- 
standteile aller kirchenpolitischen Systeme ineinander. Es erregt notwendig 
Irrungen, wenn die Behandlung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche 
schwankend geführt und mit Mitteln unternommen wird, welche in ihren 
Voraussetzungen und Wirkungen sich widersprechen. Auf dem Wege zu einer 
nach den gezeichneten Richtungen prinzipiell abgeklärten Kirchenpolitik 
stehen gegenwärtig die Staaten des Deutschen Reiches noch im Anfang der 
Entwickelung. Die großen Einheitssysteme von Staat und Kirche haben einer 
Zeit von Jahrhunderten bedurft, sich ein- und auszuleben. Das herrschende 
System der Kirchenhoheit des Staates hat sein erstes Säkulum jetzt eben 
durchschritten. Ihm gehört die deutsche Zukunft für absehbare d. h. für 
eine solche Zeit, deren Kulturinhalt vom Geschlechte der Lebenden noch mit 
verantwortet werden muß.
	        
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