Reichs- und
Landesstaats-
recht.
330 PAuL LABAnD: Staatsrecht.
deutsche Parlamentarismus sind trotz ihrer äußerlichen Gleichartigkeit ihrem
wirklichen Wesen nach verschiedene Rechtsbildungen. Wer die deutsche Reichs-
verfassung aus dem amerikanischen Bundesrecht oder dieses aus jener erläutern
will, verwirrt die Erkenntnis beider. Ein gemeinsames Staatsrecht der Völker
gibt es noch nicht und die gelegentliche Anführung einzelner Übereinstimmungen
und Unterschiede zwischen den Verfassungseinrichtungen ist in der Regel von
sehr problematischem Wert. Jede dogmatische Darstellung eines positiven
Rechtes muß sich auf einen-bestimmten Staat und einen gegebenen Zeitpunkt
beschränken; in dieser Erwägung beschränkt sich auch die hier folgende kurze
Darstellung auf das deutsche Staatsrecht.
Das gegenwärtige Staatsrecht Deutschlands hat infolge der geschichtlichen
Entwickelung der politischen Verhältnisse eine doppelte Gestaltung aufzuweisen.
Die aus den feudalen Verfassungszuständen hervorgegangenen territorialen
Herrschaften sind weder wie in den anderen Großstaaten Europas zu einem,
ihre Hoheitsrechte absorbierenden Einheitsstaat zusammengeschmolzen, noch
als selbständige und voneinander unabhängige Staatswesen auseinandergefallen;
sie sind unter Wahrung ihrer staatlichen Individualität zu einem Staatswesen
höherer Ordnung miteinander verbunden; sie bilden einen Bundesstaat, welcher
die einzelnen Staaten überwölbt und zusammenfaßt; sie sind die Glieder einer
verfassungsmäßig organisierten staatlichen Gemeinschaft, des Deutschen
Reiches,
Es gibt mithin überallin Deutschland ein Reichsstaatsrecht und ein Landes-
staatsrecht. Beide haben eine lange und verwickelte Vorgeschichte, deren ver-
schiedene Phasen gegenseitig aufeinander einwirkten und deren Spuren noch
im Recht der Gegenwart sichtbar sind. Von erheblicher praktischer Bedeutung
für die heutigen Rechtszustände ist aber erst die Entwickelung, welche mit dem
Anfang des 19. Jahrhunderts, dem Zusammenbruch des Römischen Reiches
deutscher Nation und den Einwirkungen der französischen Revolution und der
napoleonischen Vorherrschaft beginnt.
Die Zerstörung des Reiches, dieser tiefste Stand der staatlichen Zusammen-
fassung der deutschen Nation war zugleich die Grundsteinlegung für den Wieder-
aufbau einer neuen Reichsverfassung. Zunächst freilich war die Auflösung des
Reiches die vollkommene Verwirklichung des Endziels der partikularistischen
und zentrifugalen Tendenzen, welche die Staatsgewalt des Reiches zersetzt
hatten. Die Staaten, die aus der Katastrophe hervorgingen, waren im staats-
rechtlichen und völkerrechtlichen Sinne souverän und nur zu einem Land-
friedensbund vereinigt.
Aber die Vernichtung des Reiches beseitigte zugleich zwei der größten
Übelstände, nämlich die geistlichen Fürstentümer mit ihrer unerträglichen
Mißwirtschaft und die Zersplitterung des Reiches in unzählige kleine Territorien,
die nur nach den privatwirtschaftlichen Grundsätzen einer Gutsherrschaft ver-
waltet werden konnten, zur Erfüllung staatlicher Aufgaben, wie sie die neuere
Zeit stellte, dagegen untauglich waren. Wenngleich einige dieser Zwergstaaten
sich in den Rheinbund und darüber hinaus gerettet haben, so war doch die Masse