Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Reich und Einzelstaat. I. Das Grundprinzip. 333 
worden ist und ihnen daher die Eigenschaft der Souveränität nicht mehr 
zukommt, so sind sie doch auf dem weiten Gebiet, auf das ihre Kompetenz sich 
erstreckt, im Besitz der erwähnten vis jubendi et cogendi geblieben. Diese 
Rechtsmacht ist ihnen nicht vom Reich genommen und wieder zurücküber- 
tragen worden, sondern es ist das historisch begründete, angestammte, eigene 
Recht, die alte, ehemals souveräne Staatsgewalt, soweit sie nicht von ihnen 
selbst durch Eintritt in das Reich und Annahme der Reichsverfassung beschränkt 
worden ist. Die Behauptung, daß Preußen, Bayern, Sachsen usw. aufgehört 
haben, Staaten zu sein, hat auch wenig Anklang gefunden; sie steht in zu großem 
Gegensatz zu den täglichen Wahrnehmungen und ist ein unfruchtbarer Doktri- 
narismus. 
Anderseits ist das Reich kein bloßes Vertragsverhältnis, kein völkerrecht- Staatsnatur 
licher Verein der deutschen Staaten, sondern ein ihnen übergeordnetes, ver- Gen Reicht, 
fassungsmäßig organisiertes Staatswesen. Mit Unrecht beruft man sich für 
die entgegenstehende Lehre darauf, daß der Norddeutsche Bund, bzw. das Reich, 
durch Verträge der deutschen Staaten errichtet worden ist und diese Tatsache 
in der Einleitung der Verfassung hervorgehoben wird. Denn diese Verträge 
betrafen nur das Recht und die Pflicht der kontrahierenden Staaten zur Grün- 
dung des Bundes und zum Eintritt in denselben; durch die Errichtung des 
Bundes bzw. des Reiches wurden diese Verträge erfüllt; das vertragsmäßige 
Verhältnis hörte auf; die verfassungsmäßige Rechtsordnung trat an seine Stelle. 
Das Reich hat eigene Organe, durch die es staatliche Willensakte unabhängig 
von den Gliedstaaten ausübt; die Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen 
vor und erlangen ihre verpflichtende Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs 
wegen (Reichsverfassung Art. 2); das Reich kann seine Zuständigkeit im Wege 
der Reichsgesetzgebung ausdehnen, ohne daß Einstimmigkeit der Bundes- 
staaten dazu erforderlich ist (RV. Art. 78; sog. Kompetenz-Kompetenz); das 
Reich ausschließlich hat die Entscheidung über Krieg und Frieden und ist im 
völkerrechtlichen Verkehr als selbständige, staatliche Persönlichkeit anerkannt. 
Das Reich kann den Gehorsam gegen seine Befehle erzwingen teils unmittelbar 
durch seine eigenen Machtmittel, teils — was die Regel ist — mittelbar, indem 
es die Staatsgewalt seiner Gliedstaaten dazu verwendet. 
II. Verhältnis der beiden Staatsgewalten zueinander. Der 
Mittelpunkt der politischen Gesamtordnung wird nun durch das Verhältnis 
gebildet, in welches die beiden Staatsgewalten — des Reiches und des Glied- 
staates — zueinander gesetzt werden. Darin gerade besteht die ‚Verfassung‘ 
des Bundesstaates; durch die besondere Art, wie dieses Problem in den ver- 
schiedenen Bundesstaaten gelöst worden ist, unterscheiden sie sich voneinander; 
die Reichsverfassung vom 16. April 1871 hat im wesentlichen dieses Verhältnis 
zum Gegenstand und enthält seine grundgesetzliche Regelung. 
Nach der zur Zeit der Gründung des Norddeutschen Bundes allgemein Zuständigkeit 
herrschenden, von der Verfassung der nordamerikanischen Union abstrahierten “ 
Lehre (Toqueville, Rüttimann, Waitz u.a.) nahm man an, daß die Rechts-
	        
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