334 PAUL LABAND: Staatsrecht.
und Handlungssphären des Gesamtstaates und der Gliedstaaten möglichst
scharf voneinander geschieden und jede der beiden Staatsgewalten in der ihr
zugewiesenen Sphäre selbständig und von der anderen unabhängig sein müsse;
Bismarck dagegen ging bei der Reform der deutschen Bundesverhältnisse von
der entgegengesetzten Tendenz aus. Es handelte sich ja auch nicht um die
völlige Neuschöpfung einer staatlichen Ordnung ‚‚von wilder Wurzel‘‘, sondern
um die Verbesserung des bisherigen Zustandes, um die Beseitigung von politischen
Mißständen, aber unter möglichster Schonung des Althergebrachten und Be-
stehenden. Statt einer Auseinanderreißung der staatlichen Funktionen und der
Aufrichtung einer rechtlichen Scheidemauer zwischen Reich und Einzelstaat
wurde vielmehr das Zusammenwirken beider auf allen Gebieten der Staats-
tätigkeit zum wesentlichen Grundprinzip der Verfassung genommen und nur
in wenigen Punkten davon eine Ausnahme gemacht. Worauf es ankam, war
einerseits die Einheit Deutschlands nach außen im völkerrechtlichen Verkehr
zu betätigen und zu diesem Zweck eine einheitliche Vertretung und eine Kon-
zentrierung der Machtmittel zu schaffen, anderseits im Innern Gleichmäßigkeit
des Rechtes und der Einrichtungen auf denjenigen Gebieten herzustellen, auf
denen es durch den Verkehr und durch die nationale Zusammengehörigkeit er-
forderlich war, und zu diesem Zweck dem Reich das Recht der Gesetzgebung
beizulegen. Die Verfassung regelt daher die Reichsgesetzgebung, bestimmt die
dabei mitwirkenden Organe, beseitigt das — dem völkerrechtlichen Bundes-
verhältnis entsprechende — Erfordernis der Einstimmigkeit und die Ver-
kündigung der Gesetze durch die Einzelstaaten und sichert den Reichsgesetzen
den unbedingten Vorrang vor den Landesgesetzen. Sie stellt ferner ein umfang-
reiches Verzeichnis derjenigen Materien auf, die der Gesetzgebung des Reiches
unterliegen (Art. 4) und gewährt dem Reich im Art. 78 die Befugnis, den Kreis
dieser Materien nach Bedürfnis zu erweitern. Hierdurch war der Weg geebnet
und die rechtliche Möglichkeit geschaffen, in diesem großen Bereich Einheit
und Gleichheit im ganzen Bundesgebiet herzustellen. In diesen an die Spitze
der Verfassung gestellten Artikeln über die Reichsgesetzgebung ist der spezifiische
Gegensatz des neuen Bundesstaates zum ehemaligen Staatenbund zum prä-
gnanten Ausdruck gebracht.
neh der Dagegen wurde den Einzelstaaten die Verwaltung, die Handhabung und
“ Durchführung der Gesetze, sowie die Rechtsprechung auch hinsichtlich der
durch Reichsgesetze geregelten Materien gelassen. Die Einrichtungen , welche
im Zollverein bestanden hatten, wurden auch für die übrigen Zweige der Staats-
tätigkeit vorbildlich. Den Untertanen gegenüber blieb der Staat die Obrigkeit;
die Behörden und Beamten blieben — mit einzelnen Ausnahmen — Behörden
und Beamte der Staaten; die Staaten behielten ihre eigenen Truppen, ihr Ver-
mögen und ihre eigene Finanzwirtschaft; aber die Regeln, nach denen diese
Tätigkeit der Staaten sich zu richten hatte, wurden ihnen vom Reich vorge-
schrieben. Aus dem Grundprinzip, daß das Reich die Gesetze gibt und die
Einzelstaaten sie ausführen, ergeben sich noch zwei andere Sätze. Dem Reich
muß die Beaufsichtigung zustehen, daß die Einzelstaaten tatsächlich die Reichs-