B. Die Organisation des Reichs. III. Der Reichstag. 347
Der wichtigste Vorzug der Reichsverfassung vor der ehemaligen Bundes- Politische Be-
verfassung besteht in der Einfügung des Reichstags in den Organismus des Fe
Bundes. Ohne die Mitwirkung der Volksvertretung, ohne die öffentliche
Erörterung staatlicher Maßnahmen, ohne die parlamentarische Kontrolle der
Regierung könnte das Reich seinen vielseitigen Aufgaben nicht gerecht werden.
Nur durch die Volksvertretung wird die Zusammenfassung aller Kräfte des
Volkes und ihre Verwertung im staatlichen Gesamtinteresse möglich; während
die Volksvertretung die Macht der Fürsten beschränkt, steigert sie die Macht
des Staates in einem ungeahnten Maße. Dem alten Bundestage in Frankfurt
hätte keine Erweiterung seiner Zuständigkeit, keine Verbesserung seiner Zu-
sammensetzung und Geschäftsordnung politische Tatkraft zu verschaffen ver-
mocht und der Bund wäre ohne Volksvertretung ungeeignet geblieben, die Inter-
essen des deutschen Volkes zu verwirklichen. Die intensive Stärke, welche
die Reichsgewalt seit der Gründung des Norddeutschen Bundes erlangt hat,
und ihre umfangreiche Entfaltung auf allen Gebieten staatlicher Tätigkeit
beruhen auf dem Zusammenwirken der Bundesregierungen und des Reichs-
tages.
Der Reichstag ist eine so radikal-demokratische Einrichtung, wie sie sich
schwerlich in einem anderen Großstaate wiederfindet; denn infolge des allge-
meinen gleichen Wahlrechts ist er vorzugsweise eine Vertretung der besitzlosen
und ungebildeten Klassen, und ein nach anderen Grundsätzen gebildetes und
andere Interessen zur Geltung bringendes Oberhaus steht ihm nicht zur Seite.
Die geheime Stimmzettelwahl entzieht der Regierung und ihren Organen jede
Einwirkung auf den Ausfall der Wahlen, während die Wahlbeeinflussung durch
den Klerus, durch Arbeiterdiktatoren und andere Demagogen sich frei entfalten
und der verwerflichsten Mittel bedienen kann. Unter dem Schutz absoluter
Straflosigkeit stellen sich manche Redner die soziale und konfessionelle Ver-
hetzung der Volksmassen zur Aufgabe und ihre Reden finden Verbreitung und
Widerhall in der Tagespresse, welche sich hinsichtlich wahrheitsgetreuer (?)
Berichterstattung über die Reichstagsverhandlungen einer unbeschränkten
Freiheit erfreut. Die Macht des Reichstags ist eine sehr große. Er hat nicht nur
das Recht der Mitwirkung an der Gesetzgebung und an der Festsetzung des
Etats und eine umfassende Kontrolle der Reichsverwaltungen, sondern er
beherrscht auch infolge des Systems der Matrikularbeiträge, welche nur in der
vom Reichstage bewilligten Höhe erhoben werden dürfen, die gesamte Finanz-
wirtschaft des Reiches und mittelbar selbst die der Einzelstaaten. Durch die
Verlängerung der Legislaturperiode ist die Macht des Reichstages gesteigert
worden, denn das Recht der Auflösung kann nur selten und nur unter besonders
günstigen politischen Umständen mit Erfolg ausgeübt werden. Der Einfluß
der großen Fraktionen und ihrer Führer auf die Regierung des Reiches ist daher
ein stetig wachsender und muß schließlich zur Parlamentsherrschaft führen,
wenn ihm nicht wirksame Schranken gezogen werden. Durch eine Abstimmung
den Reichskanzler oder die Staatssekretäre der Reichsämter zu stürzen, ist der
Reichstag freilich nicht in der Lage; diese Ämter werden bisher noch nicht von