Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

C. Die Formen der Tätigkeit des Reichs, I. Die Reichsgesetzgebung. 349 
erklärt. Durch die Fortschritte der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches 
hat sich diese einfache Behördenverfassung immer mehr entwickelt; das Reichs- 
kanzleramt wurde in eine Anzahl von selbständigen obersten Zentralverwaltungs- 
behörden zerlegt und es sind im Laufe der Zeit neue Behörden hinzugekommen, 
von denen wieder zahlreiche Behörden mit selbständigen Geschäftskreisen ressor- 
tieren. Auch eine Reihe von richterlichen Behörden wurde geschaffen, nament- 
lich das Reichsgericht in Leipzig, das Reichsmilitärgericht in Berlin, Disziplinar- 
gerichte fürdie Reichsbeamten und eineerhebliche Zahl von Verwaltungsgerichten. 
Die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten sind geregelt durch das 
Reichsgesetz vom 31. März 1873, welches durch eine große Zahl von Reichs- 
gesetzen und Verordnungen ergänzt und abgeändert und in neuer Fassung am 
18. Mai 1907 unter dem Titel ‚Reichsbeamtengesetz‘' im Reichsgesetzblatt 
bekannt gemacht worden ist. Dazu kommt ferner das Besoldungsgesetz vom 
15. Juli 1909. 
C. Die Formen der Tätigkeit des Reichs. 
I. Die Reichsgesetzgebung. Zum Zustandekommen eines Gesetzes Der Weg der 
im formellen Sinne, gleichviel ob es einen Rechtssatz oder irgendeine andere De 
Willenserklärung zum Inhalt hat, gehören folgende vier Erfordernisse: 
Die Feststellung des Gesetzinhalts oder Gesetzentwurfs, die 
durch übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats und des Reichstags 
erfolgt, während im ehemaligen Deutschen Bunde zur Beschlußfassung über 
„gemeinnützige Anordnungen‘ Einstimmigkeit aller Staaten erforderlich war. 
Bundesrat und Reichstag sind einander gleichgestellt; jede der beiden Körper- 
schaften hat das Recht der Initiative, der Amendierung, der Ablehnung. Vor- 
schläge des Bundesrats werden vom Reichskanzler im Namen des Kaisers an 
den Reichstag gebracht; Beschlüsse des Reichstags werden durch den Präsi- 
denten desselben dem Reichskanzler übermittelt und von diesem dem Bundesrat 
in dessen nächster Sitzung vorgelegt. 
Die Sanktion ist die Ausstattung des Gesetzentwurfs mit rechtsverbind- 
licher Kraft, der Gesetzesbefehl. Sie erfolgt durch einen Beschluß des Bundes- 
rats als desjenigen Organs, welches die Gesamtheit der deutschen Bundesstaaten 
des Trägers der Reichsgewalt, vertritt. Die RV. erwähnt zwar die Sanktion nicht; 
da aber in jedem Gesetz ein Befehl enthalten ist, so ist es auch selbstverständlich, 
daß jemand diesen Befehl erteilen muß, und es ergibt sich aus der allgemeinen 
Ordnung der Verfassung eines Staates zugleich, welches Organ dazu berufen 
ist, ohne daß dies einer ausdrücklichen Festsetzung bedarf. Daß dem Kaiser 
die Sanktion der Reichsgesetze nicht zusteht, ergibt sich aus Art. 5 und 17 der 
RV., welche den Anteil des Kaisers an der Reichsgesetzgebung mit ausschlie- 
Bender Vollständigkeit festsetzen. Der Reichstag ist an der Sanktion nicht be- 
teiligt; denn seine Beschlüsse sind nicht an das Volk gerichtet und enthalten 
keine Anordnungen, sondern sie erklären dem Bundesrat, daß der Reichstag 
der Sanktion des Gesetzes seine Zustimmung erteilt. Die Sanktion ist daher 
kein Gesamtakt von Bundesrat und Reichstag, was eine verbreitete Meinung ist.
	        
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