Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

I. Justiz u.Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 385 
In früheren Epochen der deutschen Staatsentwicklung hat man hier zu- 
nächst gar kein Problem gesehen; es fragt sich, warum nicht. 
Zu alten Reichszeiten einmal deshalb nicht, weil es an einem, theoretisch 
sogar sehr weitreichenden, Schutze gegen rechtsverletzenden Mißbrauch der 
Landeshoheit, also auch der in ihr enthaltenen administrativen Gewalt, nicht 
mangelte, indem jedem deutschen Untertanen frei stand, dieserhalb Klage bei 
den Reichsgerichten zu erheben. Davon ist oben 5. 376 gesprochen worden. 
Es ist zuzugeben und wurde bereits betont, daß diese Zuständigkeit der Reichs- 
gerichte in den größeren Ländern, deren Fürsten die Macht hatten, der Reichs- 
gewalt und ihrer Gerichtsurteile zu spotten, praktisch versagte; den zahlreichen 
kleinen Territorien gegenüber war sie jedoch auch noch in den letzten Reichs- 
zeiten keineswegs wirkungslos. 
Aber auch abgesehen von dieser, immerhin gegebenen Möglichkeit, die 
Reichsgerichte anzurufen, war ein Bedürfnis nach besonderen Schutzeinrich- 
tungen zugunsten des Individuums für alle Fälle des Konflikts zwischen seinen 
Rechten und der öffentlichen Gewalt nicht so vorhanden wie später und heute. 
Freilich war damals — zu denken an das letzte Jahrhundert des alten Reiches — 
die Zeit des landesfürstlichen Polizeistaates, seine eigentliche Blütezeit, eine 
Epoche, von der man glauben sollte, daß sie mehr und häufiger zu Klagen über 
Verwaltungswillkür Anlaß gab, als irgendeine andere. Demgegenüber ist jedoch 
folgendes zu beachten: einmal bestand die den Polizeistaat kennzeichnende 
Schrankenlosigkeit vielfach mehr in der Theorie wie in der Wirklichkeit: gewiß 
‚durften die Behörden alles Mögliche und Unmögliche, aber sie taten es nicht, sicher 
nicht in dem Maße, wie man geneigt ist, anzunehmen und wie es, bei gleicher Rechts- 
lage, heute vielleicht der Fall sein würde. Man darf sich von der Intensität der 
Die alten 
Reichsgerichte 
Der 
landesfürstliche 
Polizeistaat. 
polizeistaatlichen Verwaltung keine zu hohen Vorstellungen machen: selbst indem’ 
Preußen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen wurde eher weniger 
als mehr regiert wie heute; die moderne Verwaltung greift auf Grund ihrer 
gesetzlich begrenzten Vollmachten tatsächlich viel tiefer und empfindlicher in 
Freiheit und Eigentum der einzelnen ein, als die administrative Omnipotenz 
des alten Systems, dessen Behördeninstruktionen meist gefährlicher aussahen 
als seine Praxis. Andererseits aber, wenn diese Praxis sich Eingriffe erlaubte, 
die mit heutigem Maße gemessen Übergriffe sein würden, so durfte darin nach 
dem damaligen Verhältnis zwischen Staat und Untertan eine Verletzung der 
Rechte des letzteren nicht erblickt werden, denn dieses Verhältnis war eben in 
Verwaltungssachen vorerst noch ein bloßes Gewaltverhältnis ohne gesetzliche 
Ordnung; die heute so scharf und sorgfältig gezogene Grenze zwischen Staats- 
und Individualinteresse existierte einfach noch nicht. Schließlich konnte ja 
auch damals schon jeder, der durch das Vorgehen oder Verlangen der Behörde 
sich verletzt fühlte, den Beschwerdeweg beschreiten, und nun bewirkte die ältere 
deutsche Behördeneinrichtung: die kollegialische Formation der oberen und 
obersten Landesstellen im Verein mit der mangelnden Trennung von Justiz 
und Verwaltung, daß der Beschwerdezug in Verwaltungssachen als Schütz- 
einrichtung für Recht und Freiheit des einzelnen keine schlechteren Dienste 
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 25
	        
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