I. Justiz u.Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 389
nicht befriedigt, sondern nur noch verstärkt. Die Frage dieses Rechtsschutzes war
um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland brennend geworden, und unter
den zahlreichen Schriftstellern, die sich in dieser Zeit mit der Angelegenheit
beschäftigten, war kaum einer, der den bestehenden Zustand, die Vereinigung
von reiner oder tätiger und streitentscheidender Verwaltung in der Ministerial-
instanz, gebilligt hätte. Daß zur Besserung dieser als unhaltbar empfundenen
Verhältnisse irgendein entscheidender Srhritt geschehen müsse, darin waren
alle einig, über das Wie und Wohin freilich gingen die Ansichten weit auseinander.
Zwei Meinungen vornehmlich standen sich seit Ende der fünfziger und
Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegenüber. Die eine
— ältere — wollte Abhilfe schaffen durch Ausdehnung der Zuständigkeit der
ordentlichen Gerichte auf die Gesamtheit aller Rechtsstreitigkeiten. Der ordent-
liche Richter sollte nicht nur in Privatrechtsstreitigkeiten und Strafsachen,
sondern überall auch dann entscheiden, wenn zwischen dem einzelnen und der
öffentlichen Gewalt der Umfang der Staatshoheitsrechte streitig wurde; jede
Rechtssache sollte zur Justizsache erklärt, die Verwaltung der Rechtskontrolle
der ordentlichen Gerichte unterworfen werden, wogegen diejenigen Fälle, in
denen es sich nicht um Rechts-, sondern um bloßen Interessenschutz handelte,
in denen nicht die Rechtmäßigkeit, sondern die Notwendigkeit und Zweck-
mäßigkeit eines Verwaltungsaktes angefochten wurde, der Erledigung im Ver-
waltungswege, im administrativen Instanzenzuge vorbehalten bleiben sollten.
Diese Ansicht, beruhend auf der Verwerfung jeder nicht durch die ordentlichen
Gerichte ausgeübten Rechtspflege, war schon vor 1848 theoretisch vielfach ver-
treten worden und spielte unter den politischen Forderungen jenes Jahres eine
gewichtige Rolle, — wie aus $ 182 der Frankfurter Reichsverfassung von 1849
hervorgeht: ‚Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (gemeint ist jede den Verwaltungs-
behörden zustehende Gerichtsbarkeit) hört auf, über alle Rechtsverletzungen
entscheiden die Gerichte.‘‘ Auch der Liberalismus der sechziger Jahre hielt,
namentlich in Preußen, an diesem nicht sowohl rechtsstaatlichen als justiz-
staatlichen Ideal fest und verhalf ihm dort zu einem — freilich nicht sehr be-
deutsamen Teilerfolge: dem Gesetz über die Erweiterung des Rechtsweges vom
24. Mai 1861. Als Vollender aber und beredtester Anwalt der Richtung muß
Bähr bezeichnet werden (,,Der Rechtsstaat‘‘, erschienen 1864).
Das Bährsche Buch zeigt die justizstaatliche Theorie bereits in eine Ver- Bähr und Gneist.
teidigungsstellung zurückgedrängt. Es war ihr inzwischen eine Gegenmacht
erwachsen, die zweite der beiden Meinungen über die Rechtsschutzfrage war
hervorgetreten: zunächst und auch sogleich mit der vollen Tiefe historischer,
rechtsvergleichender und politischer Begründung in den Arbeiten Gneists über
Englisches Verwaltungsrecht (zuerst 1860—1863 erschienen; vgl. z. B. englische
Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Bd. 2, 1. Aufl. [1860], S. 887ff.).
Schon damals verwarf Gneist, wie später stets, den Gedanken der Rechts-
kontrolle der Verwaltung durch den ordentlichen Richter: die erforderliche
Garantie gesetzmäßiger Verwaltung dürfe nicht in der Unterordnung der Ver-
waltung unter die Justiz gesucht, sondern müsse gefunden werden in einer dem