Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

C. Der Begrift des Rechtes. III. Die Selbstherrlichkeit. 21 
und unveränderlich, die besonderen Bestimmungen des geschichtlichen Stoffes 
nach jenen festen logischen Bedingungen sind niemals unbedingt abgeschlossen. 
Die Kleiderordnungen, die Gesetze über die Art von Festlichkeiten bei Hoch- 
zeiten, Kindtaufen, ja sogar die Formalitäten der Verlöbnisse wurden in frühe- 
ren Zeiten häufig als rechtliche Satzungen aufgestellt, während sie heute zu- 
meist der Sitte überlassen sind; und wir besitzen umgekehrt im Verkehre 
der Gegenwart, beispielsweise im neuzeitlichen Völkerrecht, manche Rechts- 
sätze, deren Inhalt man in alten Tagen nur als konventionale Gebräuche ohne 
juristischen Charakter gelten ließ. Das Grüßen auf der Straße geschieht bei 
uns gewöhnlich nur nach Brauch und Sitte, aber es kann etwa im Beamten- 
und Militärverhältnis mit rechtlichen Folgen ausgestattet sein. Die Frage 
der Sonntagsruhe oder die Beobachtung ritualer Vorschriften mag bald mit 
erheblicher rechtlicher Bedeutung auftreten, bald ohne sie zu bemerken sein. 
Ein Versuch einer abstrakten Zerteilung der genannten Begriffe würde 
darin gelegen sein: daß das Recht von dem „Staate‘‘ ausginge, während die 
Sitte von der „Gesellschaft‘‘ ohne ‚Organisation‘ geschaffen würde. Allein 
dem steht entgegen, daß der Begriff des Staates selbst nur eine bestimmte 
„rechtliche‘‘ Verbindung besagt und darum dem Begriffe des Rechtes logisch 
untergeordnet ist. Auch heißt ‚‚organisieren‘‘ weiter nichts, als unter Re- 
geln vereinigen, so daß wir hierin ein dem sozialen Wollen gemeinsames 
und kein seine beiden jetzigen Arten unterscheidendes Merkmal hätten. 
Das allgemeingültige Merkmal, nach dem Recht und Sitte formal sich De Sinn des 
scheiden, kann nur indem Sinne des Geltungsanspruches beider Regel- anenuchen 
arten gelegen sein. Das Recht will formal als selbstherrliches Wollen gelten. 
Es erhebt den Anspruch, unabhängig von der Zustimmung der Rechtsunter- 
worfenen über diesen zu stehen. Es bestimmt selbst, wer ihm unterstellt 
ist, wann jemand in den Verband eintritt oder aus diesem zu entlassen ist. 
Die Sitte besteht dagegen in dem formalen Sinne einer bedingungsweisen 
Einladung, sie gilt ihrem eigenen Sinne nach nur hypothetisch, bloß zufolge 
der Einwilligung der Unterstellten, sei es auch einer stillschweigend gegebenen. 
Vielleicht übt sie allerdings im besonderen Tatbestande einen so starken Druck 
aus, daß der Angeredete sich dem kaum entziehen mag; und es kann ein solcher 
konventionaler Zwang sogar zu einem Widerstreite mit einem Gebote des Rech- 
tes führen, z. B. in Fragen der Herausforderung zum Zweikampf. An dieser 
Stelle handelt es sich aber nicht um beschreibende Schilderung wirklicher 
Vorgänge und vergleichsweise Abschätzung tatsächlicher Einflüsse auf diesen 
oder jenen Menschen, sondern um das logische Kriterium, nach dem es mög- 
lich ist, zwischen Recht und Sitte einen allgemein gültigen formalen Unter- 
schied festzustellen und den zwischen diesen beiden Klassen sozialer Regelung 
seit langem mehr dunkel empfundenen, wie deutlich eingesehenen Gegensatz 
in wissenschaftlicher Klarheit zu beherrschen. 
Die Allgemeingültigkeit dieser Einteilung zeigt sich gesichert in folgen- Aigemein- 
der Erwägung. Zu dem Begriffe des Wollens gehört nichts, als die Art des lung 
Bestimmens in der Zeit, nämlich, wie oben in Erinnerung gerufen, eine Be-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.