Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Rechtsstaat, 
nicht Justizstaat. 
Gründe gegen 
den „Justiz- 
staat”. 
390 GERHARD ANSCHOTZ: Verwaltungsrecht. 
Zweck des Rechtsschutze entsprechenden Neugestaltung der Verwaltung selbst; 
eine gewisse Gerichtsähnlichkeit der Verwaltung in Organisation und Verfahren 
sei anzustreben. Damit war die Forderung besonderer Verwaltungsgerichte 
— justizförmige Einrichtungen mit prozeßähnlichem Verfahren innerhalb, 
nicht außerhalb des Verwaltungsorganismus — im Prinzip bereits erhoben und 
die Einsetzung solcher Verwaltungsgerichte als ein Hauptpunkt organisatorischer 
Verwaltungsreform hingestellt. Verständnis fand Gneist in Preußen zunächst 
nicht so sehr bei seiner liberalen Partei als bei den politischen Gegnern zurRechten, 
wie denn schon 1861 die konservative Partei im preußischen Abgeordneten- 
hause sich (durch Wagener) sehr deutlich im Sinne der Gneistschen Gedanken 
ausgesprochen hat, — während andererseits außerhalb Preußens, im Groß- 
herzogtum Baden, jenem Gedanken von einer entschieden liberalen Regierung 
und Landtagsmehrheit der erste praktische Erfolg bereitet wurde: es ist das 
badische Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 
1863. Die Einführung besonderer Rechtsschutzeinrichtungen in das bestehende 
und, soweit erforderlich, umzugestaltende System der Verwaltungsbehörden, 
— kurz das Problem der Verwaltungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne konnte 
jetzt nicht mehr als Parteifrage, als Streitfrage zwischen konservativ und 
liberal, monarchisch und demokratisch aufgefaßt werden. Dies hat die werbende 
Kraft des Gedankens der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt und die Verstän- 
digung zwischen Regierung und Volksvertretung und zwischen der Parteien der 
letzteren unter sich über die Durchführung jenes Gedankens namentlich in 
Preußen wesentlich erleichtert. 
Nicht die Idee von 1848, nicht Bähr, nicht der ‚,Justizstaat‘‘ ist es, der 
sich die Wirklichkeit des Rechtes in Deutschland erobert hat, sondern Gneist 
und sein Gedanke, das Problem der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu lösen durch- 
die Reform der Verwaltung selbst: durch Aufstellung besonderer Verwaltungs- 
gerichte im Rahmen der Verwaltungsorganisation. Den vollen Sieg dieses Ge- 
dankens und die endgültige Ablehnung jener anderen, mit dem Schlagworte 
„Justizstaat‘‘ bezeichneten Gedankenreihe, bedeutet die Einführung der Ver- 
waltungsgerichtsbarkeit in Preußen durch die Reformgesetzgebung von 1872 
bis 1883. 
Es sind weniger theoretische Erwägungen als praktische Gründe, allerdings 
solche von schwerstem Gewicht gewesen, welche den Streit um die Verwaltungs- 
rechtspflege in dem angegebenen Sinne entschieden haben. 
Einer dieser Gründe wurde der Tatsache entnommen, daß der deutsche 
Richterstand in seiner vorwiegend privatrechtlichen und strafrechtlichen Aus- 
bildung und Berufserfahrung der Aufgabe, welche ihm die Übertragung der 
Rechtsprechung in Verwaltungsangelegenheiten stellen würde, eine Aufgabe, 
welche volle Beherrschung des Verwaltungsrechts und der Verwaltungspraxis 
verlangt, nicht gewachsen sein möchte. Dieser Befürchtung mangelhafter 
Rechtskenntnis trat zweitens die Besorgnis hinzu, daß die geforderte Juris- 
diktion der ordentlichen Gerichte in Verwaltungssachen auch die nötige Sach- 
kenntnis werde vermissen lassen. Ist doch in vielen, heute vor das Forum der
	        
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