I. Justiz u. Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 411
erhebliche Abweichung von den deutschen Institutionen. Wie in manchen, nicht
aber in allen, deutschen Staaten (s. oben S. 394) ist von der Beteiligung ehren-
amtlicher Laienelemente an der Verwaltungsgerichtsbarkeit ganz Abstand ge-
nommen; die Mitglieder sowohl der Präfekturräte wie des Staatsrates sind durch-
weg besoldete Berufsbeamte, welche übrigens der rechtlichen Garantien richter-
licher Unabhängigkeit so gut wie völlig entbehren. Die conseillers de prefecture
werden vom Präsidenten der Republik ernannt und können von ihm jederzeit
„revoziert‘‘, d.h. abgesetzt werden; die Mitglieder des Staatsrates ernennt gleich-
falls, nach Anhörung des Ministerrates, der Präsident der Republik auf die Dauer
von jeweils 9 Jahren, und wenn es auch Sitte sein mag, die durch Ablauf ihrer
Amtsperiode ausscheidenden Staatsräte aufs neue zu ernennen und während
der Periode von dem diskretionären Absetzungsrecht der Staatsregierung Keinen
Gebrauch zu machen, so ist das doch eben nur eine tatsächlich zugestandene,
keine rechtlich gesicherte Unabhängigkeit. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist
eben nach ihrer ganzen Anlage und Organisation in Frankreich noch viel mehr
Verwaltung, viel weniger Justiz als in Deutschland.
Die Präfekturräte, deren Zusammensetzung, Zuständigkeit und Verfahren
die Gesetze vom 2I. Juni 1865 und 22. Juli 1889 neu geordnet haben, be-
stehen außer dem vorsitzenden Präfekten — an dessen Stelle nur im Seine-
departement ein besonderer Vorsitzender im Hauptamt tritt — aus 3 oder 4,
im genannten Departement aus 9 Mitgliedern, Präfekturräten (conseillers de
prefecture), die vom Präsidenten der Republik ernannt werden. Einer dieser
conseillers wird für die Dauer je eines Jahres zum Vizepräsidenten der Behörde
berufen und führt (de facto fast immer) den Vorsitz an Stelle des Präfekten.
Die sachliche Zuständigkeit der conseils de prefecture ist durch zahlreiche Ge-
setze aufzählend bestimmt; sie umfaßt zunächst jenes weite Gebiet fiskalischer
Streitsachen, welche nach unseren Anschauungen als Privatrechtsstreitigkeiten
im ordentlichen Rechtswege auszutragen sind: Prozesse über die Grenzen des
öffentlichen Eigentums, über Ansprüche an den Staat aus Kauf-, Tausch-,
Lieferungs-, Dienstmieteverträgen der mannigfachsten Art, über öffentliche
Arbeiten und Unternehmungen. Sie erstreckt sich sodann in der Hauptsache
noch auf das Gebiet der direkten Steuern und auf Streitigkeiten über die Gültig-
keit der Wahlen in Gemeinden und anderen Selbstverwaltungskörpern, nicht
aber z. B. auf die Rechtskontrolle polizeilicher Anordnungen und Verfügungen.
Gegen die Endurteile der Präfekturräte findet der Rekurs an den Staatsrat statt.
Der Staatsrat, reorganisiert durch das Gesetz vom 24. Mai 1872, dessen
Bestimmungen durch mehrere spätere Novellen, zuletzt durch das Finanzgesetz
vom 8. April 1910, Art. 96, 97, wiederum abgeändert sind, übt die ihm über-
tragene Zuständigkeit in streitigen Verwaltungssachen (,‚lesrecours contentieux‘‘)
aus in zwei engeren Versammlungen und einer weiteren. Von den beiden engeren
Versammlungen (sections), welche den Charakter ständiger Abteilungen des
Staatsrates haben, führt die eine den Namen section du contentieux, die andere
(durch das Finanzgesetz vom 8. April IgIo geschaffene) heißt section speciale
du contentieux. Beide sind in je drei Unterabteilungen gegliedert. Die weitere
Präfekturräte.
Staatsrat.