I. Justiz u. Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 417
Rechtsschutz in Verwaltungssachen den ordentlichen Gerichten, welche überall,
und zwar im gewöhnlichen Instanzenzuge, zuständig sein sollen, wo die Ver-
letzung eines bürgerlichen oder politischen Individualrechts unter Streit steht,
einerlei, ob und inwieweit die Verwaltung bei der Streitfrage interessiert ist, und
einerlei, ob die Verletzung einer Privatperson oder den Staatsorganen schuld
gegeben wird. Man sieht: die oben (vgl. S. 390) mit dem Schlagworte ‚, Justiz-
staat‘‘ bezeichnete Lehre, welche alle Verwaltungsgerichtsbarkeit als einen
Einbruch in die Domäne des ordentlichen Richters, als verwerfliche Sonder-
und Ausnahmegerichtsbarkeit betrachtet, ist zu derselben Zeit, als Gneist ihr
in Deutschland eine entscheidende Niederlage beibrachte, in Italien zum Siege
gelangt. Dieser Sieg ist insofern auch ein dauernder, als das Gesetz von 1865
nicht etwa später aufgehoben worden ist, sondern heute noch gilt, so daß die
Verwaltung vor den ordentlichen Gerichten, ohne daß ihr ein privilegierter Ge-
richtsstand vor dem obersten Gerichtshof (wie in England) eingeräumt ist,
Recht zu geben hat in allen Fällen, wo ihre Akte als gesetzwidrige Eingriffe
in bürgerliche Rechte, etwa ın das Eigentumsrecht, von der Partei zum Gegen-
stand einer Klage gemacht werden. Jener Sieg ist dann sogar noch erweitert
worden durch das Gesetz vom 31. März 1877, welches die Entscheidung der Kom-
petenzkonflikte zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden von der
höchsten Verwaltungs- auf die höchste Justizstelle, vom Staatsrat auf den
(römischen) Kassationshof übertrug, so daß seitdem die Justiz in allen Streit-
sachen des Verwaltungsrechts souverän auch über ihre eigene Kompetenz, über
die Vorfrage der Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges zu befinden hat.
Die neuere Gesetzgebung, abgeschlossen durch das oben erwähnte Gesetz Ordentliche Ge-
. . . . . .. . _ Fichte und Ver-
vom I. Mai 1890, bedeutet nun nicht etwa eine Wiedereinschränkung des in „„itungsgerichte
so auffallend weitem Maße zugelassenen ordentlichen Rechtsweges. Sie hat in Italien.
vielmehr unter voller Aufrechterhaltung der bestehenden Justizzuständigkeit,
insbesondere des Gesetzes von 1865, eine neue Organisation innerhalb des Rah-
mens der Verwaltung geschaffen, welche als ein zweiter großer Regulator der Ver-
waltung unabhängig und selbständig neben den ersten, neben die ordentlichen
Gerichte, gestellt ist und deren Zuständigkeit in keiner Weise kreuzt. Diese
neue Organisation gliedert sich in zwei Stufen: Unterinstanz ist die Giunta
provinciale amministrativa (eine für jede Provinz; die Giunta besteht aus dem
Präfekten der Provinz, zwei vom Minister des Innern bezeichneten Präfektur-
räten, also Verwaltungsbeamten, und vier vom Provinzialrat gewählten Laien:
es ist fast genau die Formation des preußischen Bezirksausschusses, dem die
Giunta auch darin gleicht, daß sie zugleich Verwaltungsbehörde und Verwaltungs-
gericht ist), Oberinstanz die durch Gesetz vom 31. März 1889 begründete vierte
Abteilung des Staatsrats (Quarta sezione del Consiglio di Stato). Letztere,
wie die anderen (konsultativen) Abteilungen des Staatsrats aus einem Präsi-
denten und acht Mitgliedern (alle auf Lebenszeit und mit den Garantien richter-
licher Unabhängigkeit vom König ernannt) bestehend, entscheidet einerseits
über Rekurse gegen Urteile derGiunta, andererseits in erster und einziger Instanz.
Die sachliche Zuständigkeit der Giunta ist durch die Gesetze aufzählend, die
Kultur der Gegenwart. I]. 8. 2. Aufl. 27