II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 433
der des Naturrechtes und des Liberalismus sehr erheblich abweicht. Siche-
rung des Staates nach außen, Sicherung des einzelnen durch Rechtspflege und
Polizei erscheint uns keineswegs mehr als ausreichend, um die Aufgabe des
Staates zu erfüllen. Der heutige Staat will außerdem eine fördernde und
pflegliche Tätigkeit entfalten, will selbst Güter schaffen oder schaffen
helfen und sie dem Volke darbieten. Und zwar, wenn nötig, auch mit Hilfe
des Zwanges. Ja der heutige Staat greift zwecks Förderung der staatlichen
und kommunalen Kulturaufgaben mit viel leichterem (weil besserem) Ge-
wissen als der Polizeistaat in die Freiheit oder das Privateigentum ein. Dabei
gewährt er, wie meist schon der Polizeistaat, für die dadurch erzeugten ver-
mögensrechtlichen Nachteile Entschädigung (typischer Fall: Expropriation),
während Entschädigungen wegen polizeilicher Eingriffe bislang nur ausnahms-
weise vorkomnıen (so bei veterinär- und sanitätspolizeilicher Vernichtung von
Vermögenswerten). Im übrigen verlangt man heute (und auch dies unterscheidet
uns vom Polizeistaat) bei Eingriffen in Freiheit oder Eigentum zu Zwecken der
Kulturpflege stets spezielle oder gar (wie oft in England) individuelle gesetzliche
Ermächtigungen. Bei alldem tritt die Bedeutung des Zwanges hier im Gegensatz
zum Militär-, Finanz- und Polizeirecht sehr zurück, und die frei schaffende
Tätigkeit, dic Erzeugunggeistiger und materieller Güter trittin den Vorder-
grund. Darum ist hier der grundlegende Rechtsbegriff nicht wie dort der behörd-
liche Befehl, sondern die öffentliche Anstalt, deren Recht, obwohl in der kano-
nistischen Jurisprudenz bereits zu schönen Ansätzen (Kirche, Friedhof, Stiftung)
entwickelt, doch von der modernen Rechtswissenschaft noch nicht in völlig
befriedigender Weise erfaßt worden ist. Vom Recht der öffentlichen Anstalten
kann indes hier nicht weiter gehandelt werden. Genug damit, daß es kaum
ein Ressort gibt, in dessen Bereich sie nicht eine große und wichtige Rolle
spielen. Am bedeutsamsten sind sie natürlich für die Wirtschaftspflege (da-
von noch weiter unten), aber auch im Militärwesen, in der Justiz, in der Sani-
tätspflege, in der Kunstpflege, im Bildungswesen sind sie zu immer größerer
Bedeutung gediehen. Die enorme Steigerung der Zahl und auch der Arten Die öfentlichen
der öffentlichen Anstalten ist eines der charakteristischen Merkmale
unserer Zeit. Diese Steigerung verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf Staat
und Kommune. In den Staaten englischer Zunge dagegen ist das Wachstum
der letzteren besonders bemerkenswert. Die englische Rasse schwenkte im
Mutterland und in seinen Kolonien, sowie in den Vereinigten Staaten auf dem
Wege des ‚‚Munizipal-Sozialismus‘' auffallend rasch von den Ideen des Liberalis-
mus ab. Neben den Staats- und Kommunalanstalten bestehen öffentliche An-
stalten im Privateigentum fort. Aber nur jene mit karitativen Zwecken
scheinen sich erhalten zu wollen, während jene, die Gewinnzwecken dienen,
zumal wenn sie einen monopolistischen Charakter haben, wie die Privateisen-
bahnen, unverkennbar im Begriffe sind, zu verschwinden. In die Augen
springend ist die erhöhte Anteilnahme der kommunalen Selbstverwaltung an
der Kulturpfiege, wobei die Tätigkeit der Städte stark überwiegt. Außerdem Telanne 1
en Vereins-
spielt hier das freie Assoziationswesen, welches der Polizeistaat nicht geduldet wesens.
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 28