Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

436 EDMUND BERNATZIK: Verwaltungsrecht. 
wenn die Nationalitäten einander einigermaßen die Wage halten. Dann ent- 
steht das Problem eines Staates mit mehreren Nationalitäten, deren keine die 
andere beherrschen kann. Seinen rechtlichen Ausdruck findet dieser Zustand 
in dem Prinzip der Gleichberechtigung der Nationalitäten im Staat. Eine 
solche ist in der Tat in mehreren Verfassungen ausgesprochen, aber sie ist 
bisher nirgends vollkommen durchgeführt, vielleicht überhaupt nicht durch- 
führbar. Schon die bloße Annäherung an dieses Prinzip greift so tief in das 
Staatsleben ein, daß das Gefüge eines Einheitsstaates damit schwer vereinbart 
wird. Es muß dann zu einer zusammengesetzten Staatsform, einem Bundesstaat 
oder einer monarchischen Union gegriffen werden. Auch dieser Weg ist nur gangbar, 
wenn die Zahl der Nationalitäten zwei, wie in Belgien, höchstens drei, wie in der 
Schweiz, nicht überschreitet und halbwegs eine numerische und kulturelle Gleich- 
heit besteht. Dies letztere trifft nur bei der Schweiz und auch bei dieser nicht 
ganz zu. Im 19. Jahrhundert schien das ‚Nationalitätsprinzip‘‘ eine wenn auch 
gewaltsame Lösung zu bringen, indem jede Nationalität ein Staat werden zu 
wollen schien. Und in der Tat ist ja die Landkarte in diesem Sinne stark um- 
gestaltet worden. Betrachtet man aber die Gemenglage der Nationalitäten 
in Rußland, Österreich, Ungarn, auf dem Balkan, um von den übrigen Welt- 
teilen zu schweigen, wo noch ganz andere, nämlich Rassegegensätze hinzu- 
treten, so muß man zugeben, daß man hier vor einem der schwierigsten aller 
politischen Probleme steht, zu dessen Lösung ernsthaft zu nehmende Ver- 
suche fast nirgends gemacht sind. Beachtenswerte Ansätze dazu finden wir 
nur in Österreich. 
Ill. Die Sitte. Ein etwas anderes Bild bietet uns die Sitte. Ein Stück 
derselben, die unerläßlichen Regeln des gesellschaftlichen Lebens ‚die wir mit 
dem Ausdruck ‚Sittlichkeit‘‘ bezeichnen, schützt der Staat durch seine Justiz 
und Polizei. Das ist allerdings noch keine ‚‚Pflege‘‘'. Wohl aber läßt ihr der Staat 
eine solche, und zwar in höchst bedeutsamer Weise, in Form der ‚Erziehung‘ 
angedeihen, die einen Teil des Jugendunterrichtes bildet. Es ist eine sehr 
wichtige Erscheinung der Gegenwart, daß die staatliche oder konımunale Er- 
ziehung — und zwar in aller Regel Anstaltserziehung — die mangelhafte oder 
ganz fehlende Erziehung des Elternhauses, die bei den besitzlosen Klassen 
infolge der Fabrikarbeit der Frauen mehr und mehr wegfällt, in „Krippen“, 
„Kindergärten‘‘ und anderen Anstalten zur Erziehung verwahrloster Jugend 
zu ersetzen beginnt. Ja vielfach fühlen sich Staat und Gemeinde heute schon 
verpflichtet, über das Kindes-, ja selbst Jünglingsalter hinaus Individuen mit 
geschwächter Willenskraft (Irre, Trinker, entlassene Sträflinge), teils mit, teils 
gegen ihren Willen, in Anstalten, oder auch außerhalb solcher zum Verharren 
in der „Sittlichkeit‘‘ zu bringen, und es ist bemerkenswert, in welch hohem 
Maße die Verwaltung hierbei durch Vereinstätigkeit ergänzt wird. Indes fängt 
man neuerdings an, nicht bloß der vernachlässigten Erziehung in solcher 
Weise nachzuhelfen, sondern auch in der Schule selbst ein größeres Gewicht 
auf die Hinführung der Jugend zur Ethik und Patriotismus zu legen. Die
	        
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