438 EDMUND BERNATZIK: Verwaltungsrecht.
artige Maßregeln des Staates müssen diese Änderung der Sitte stürmisch
potenzieren. Doch sind das nur Reflexwirkungen. Direkt auf Änderung von
Sitten gerichtete staatliche Tätigkeiten sind in nicht revolutionären Zeiten
eine Seltenheit. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Verbesserung der üblichen
Arbeitsbedingungen durch den Staat und die Kommunen als Arbeitgeber,
sowie bei der Vergebung von Lieferungen. Ein solches Beispiel wirkt schnell
auf die anderen Betriebe weiter, nicht so sehr als ‚‚gute Lehre‘‘, die Geldinteressen
gegenüber auf taube Ohren .stößt, sondern als Beweis für das wahre Interesse
des Unternehmers. Das 20. Jahrhundert wird solche Mittel zur Hebung der
Lage des Proletariats sicherlich desto häufiger anwenden, je mehr die staat-
lichen und kommunalen Gemeinwesen sich demokratisieren.
IV. Die Religion. Die Stellung des Staates zur Religion wird an
anderer Stelle dieses Werkes erörtert. Hier sei nur festgestellt, daß das
19. Jahrhundert zwar überall die große Errungenschaft des Naturrechtes, die
individuelle Gewissensfreiheit, eingeführt und festgehalten hat, daß aber auch
hier keineswegs die letzten Konsequenzen des Liberalismus gezogen wurden,
welche unzweifelhaft keine anderen sein können, als die vollständige ‚Tren-
nung der Kirche vom Staat‘‘ bei Unterstellung der Religionsgesellschaften
unter das’ freie Vereinsrecht und bloßem Vorbehalt polizeilicher Schranken
gegen unsittliche oder staatsgefährliche Bekenntnisse oder Betätigungen.
Nur in einigen außereuropäischen Staaten, dann neuestens in Frankreich und
Portugal ist annähernd dieser Zustand herbeigeführt. ‘Wo sonst ähnliche
Prinzipien in den Verfassungen stehen, werden sie in der Praxis oder durch die
Verwaltungseinrichtungen meist umgangen. Wir finden die Bekenntnisse der
Majorität begünstigt, die großen Religionsgesellschaften gegenüber neuen und
freieren Bildungen bevorzugt, es erhalten die ersteren erhebliche Zuschüsse
aus Staats- oder Kommunalsteuern, wo nicht gar der ganze Kultus vom Staate
bezahlt wird, der Staat begünstigt oder erzwingt sogar direkt einen Religions-
unterricht für die Jugend, gewährt den konfessionellen Privatschulen Öffent-
lichkeitsrechte, verleiht auch dort, wo die Einführung der Zivilstandsregister
und der Zivilehe erfolgt ist, den Kultusorganen gewisse obrigkeitliche Rechte,
nimmt einen Einfluß auf deren Bestellung, überwacht ihre Ausführung usw.
Er räumt somit den großen Religionsgesellschaften eine weit über die Rechts-
fähigkeit freier Vereine hinausgehende Stellung von sogenannten öffentlichen
Korporationen ein, gliedert sie dadurch in verschiedenem Ausmaße seinem
eigenen Organismus an oder ein und hat sich so von dem mittelalterlichen Prin-
zip der Staatsreligion weit weniger entfernt (oder besser gesagt, sich ihm im
19. Jahrhundert weit mehr wieder genähert), als man nach den tönenden
Phrasen der Verfassungsurkunden glauben möchte. „‚Dissentierende‘‘ freie
religiöse Verbände sind zwar gestattet, wie auch gewöhnlich die Angehörigkeit
an ein bestimmtes Bekenntnis nicht direkt gefordert wird. Im ganzen ist aber
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Tendenz nach einer stärkeren
Pflege des religiösen Geistes in fast allen Staaten unverkennbar. Schwerlich