Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpfiege. 447 
bedrohen. So schwer es auch dem auf dem Boden der klassischen Geistes- 
kultur Ausgebildeten fallen mag, diese Möglichkeit sich vorzustellen, so ist 
es doch nicht undenkbar, daß das 20. Jahrhundert sich mit einem starken 
Ruck von der beherrschenden Stellung der Universitäten loszureißen versuchen 
wird. Damit würde eine unabsehbare Veränderung unserer höheren Geistes- 
kultur eintreten, die bisher noch immer auf den antiken Grundlagen beruht. 
Was nun weiter die Stellung des Staates zu dem übrigen Unterrichts- 
wesen betrifft, so können wir von dieser sehr großen Materie nur ein paar 
Hauptpunkte berühren. Wir bemerken vor allem, daß die große Errungen- 
schaft der Reformation das Recht und die Pflicht des Staates auf Gewährung 
des Elementarunterrichtes überall zur Anerkennung gebracht und zur großen 
Idee des Unterrichtszwanges fortgebildet wurde, welche mit der allgemeinen 
Wehrpflicht und der Presse hauptsächlich zur Demokratisierung der euro- 
päischen Gesellschaft beigetragen hat. Daneben hat sich freilich überall eine 
gewisse Freiheit des Privatunterrichtes erhalten, der vielfach zum konfessionellen 
Unterricht zurückführt. Auf diesen Punkt konzentriert sich im Augenblick 
Unterrichts- 
anstalten, 
hauptsächlich der Kampf zwischen mittelalterlicher und moderner Staats- 
auffassung. Sodann fällt auf, daß ein immer größeres Gewicht auf die Pflege 
allgemeiner Bildung, künstlerischer, technischer Fertigkeiten, dann der Cha- 
rakterbildung und Körperpflege, mit einem Worte neben dem Unterricht auf 
die Erziehung gelegt wird. Auch hier sind die Engländer dem Kontinent 
weit vorangegangen. Während jene, sowie die Amerikaner auf den wissen- 
schaftlichen Unterricht zu wenig Gewicht legen, ist auf dem Kontinente bisher 
das Umgekehrte der Fallgewesen. Doch auch hier begnügt man sich in neuester 
Zeit nicht mehr damit, die Jugend mit Wissen vollzustopfen, man möchte sie 
zu „Gentlemen‘' ausgebildet sehen. Es gibt für die Kontinentalen wenig be- 
klagenswertere Tatsachen, als die, daß ihnen dieser Begriff fremd geblieben ist, 
so zwar, daß der Ausdruck ‚Gentleman‘ nicht einmal in unsere Sprachen, 
und so auch nicht ins Deutsche übersetzt werden kann. Und auch hinsicht- 
lich der Körperpflege verdanken wir den Engländern das Wichtigste, den Sport, 
neben dessen Verdiensten die deutschen und schwedischen Leistungen auf dem 
Gebiete des Turnens wohl verblassen müssen. Erwähnenswert ist ferner, in 
welch starkem Umfang die Sozialpolitik im Unterrichtswesen Eingang ge- 
funden hat. Denn die allgemeine Schulpflicht, abgesehen davon, daß sie vielen- 
orts nicht durchgeführt wird, hat sich ohne weiteren Ausbau als nicht zum 
Ziele führend erwiesen. 
Außerordentlich Vieles und Schönes ist zwar im 19. Jahrhundert zur 
Fortbildung der Kinder über die Volksschule hinaus geleistet worden und 
die Anstalten, die ins Leben gerufen wurden, um den Übergang ins gewerb- 
liche und industrielle Leben zu erleichtern, sind von bleibendem Werte. Aber 
dieser ganze ‚Fortbildungsunterricht‘‘ diente doch nur den Interessen des 
kleinen und mittleren Bürgerstandes. Erst in den letzten Dezennien begann 
man mehr als bisher das Schulwesen den Interessen der besitzlosen Klassen 
dienstbar zu machen, anfänglich überall getrieben vom freien Vereinswesen 
Volksbildung;- 
wesen.
	        
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