Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

D. Das positive Recht. I. Das Gelten des Rechtes. 27 
In diesem Sinne findet sich die Behauptung, daß alles Recht von dem 
‚„volke‘‘ ausgehe. Aber das Gelten eines Rechtes ist anderes und mehr 
als eine Summe von Anerkennungen der einzelnen Rechtsunterstellten; das 
Recht will selbstherrlich über diesen stehen und vermag sich durchzusetzen 
— mithin Geltung zu erlangen und zu behaupten — auch gegen widerstrebendes 
Verhalten jener. Die Vorstellung von dem ‚Volke‘' aber ist mehrdeutig und 
führt leicht zur Unklarheit. Im Sinne der historischen Rechtsschule sollte es 
ein eigenes, beseeltes Lebewesen sein; dies haben wir abgelehnt (A. 2), nicht 
sowohl weil der menschliche Verband sinnlich nicht wahrgenommen werden 
kann, sondern weil zu seinem Begriffe der Raum als bleibende Bestimmung 
nicht gehört. Heute wird ‚„Volk‘‘ im Sinne der Romantik nur wenig angenom- 
men; aber es ist die Bedeutung des Wortes dadurch nicht klarer geworden. Es 
besagt zuweilen (in naiver Weise) die Mehrheit der stimmberechtigten Männer; 
oder will sonst einen Teil der Rechtsunterstellten angeben, der einem anderen 
Teile gegenübersteht, z. B. ‚Volk‘‘ gegenüber dem Fürsten, den Adligen, den 
Juristen etc. In allen Fällen sind es Menschen, die durch ein besonderes Recht 
verbunden sind und unter einem geltenden Rechte schon stehen, so daß die 
allgemeinen Voraussetzungen des ‚„Geltens‘‘ von einer solchen rechtlichen 
Verbindung unmöglich abgeleitet werden können. 
Das Volk. , 
Der gleiche methodische Fehler findet sich bei dem oft erörterten Rechte Das Recht des 
„des Stärkeren‘‘. So Haller (1768-1854), Restauration der Staatswissenschaft, 
im Sinne eines Naturgesetzes und nach Analogie der Natur; Gumplowicz (1838 
bis 1910), Rechtsstaat und Sozialismus, der die stärkere Völkergruppe not- 
wendig herrschen lassen will. Allein es kann sich hier nur um den sozial 
Stärkeren handeln, dem seine Macht erst durch ein besonderes geltendes 
Recht verliehen worden ist; das ‚‚Gelten‘‘ als solches kann also nicht einfach 
von dem „Stärkeren‘‘ abgeleitet werden. 
Eine allgemeingültige Bestimmung des rechtlichen Geltens läßt sich nur 
auf psychologischem Wege gewinnen, Psychologie will die Verknüp- 
fung eines Gedankeninhaltes mit bestimmten Menschen beobachten. Die 
Geltung eines Rechtes (= Möglichkeit seiner Durchsetzung) liegt vor, wenn 
ein besonders rechtliches Wollen auf bestimmte Menschen — eben im Rechts- 
sinne — einzuwirken vermag. Dieses bedingt eine gewisse Macht (irgendwelcher 
Art) auf der rechtsetzenden Seite, aber auch ein vertrauendes Entgegenkommen 
(daß nämlich „rechtliches‘‘ Wollen bestehen solle) bei den zu verbindenden 
Menschen. Ob solches vorliegt, ist Einzelfrage und nicht immer mit voller 
Exaktheit zu entscheiden (z. B. bei einem Bürgerkriege, bei feindlichem Ein- 
bruche u.a.). Doch erledigt es sich in normalen Verhältnissen meist ohne 
Schwierigkeit, indem sich neues Recht in den Bestand einer zweifellos gelten- 
den Ordnung einfügt. 
In allen jetzt behandelten Fragen ist von der sachlichen Begründet- 
heit eiries bestimmten Rechtsinhaltes noch keine Rede. Die Begriffe gesetztes 
Recht und richtiges Recht sind durchaus zu unterscheiden. Der letzte gibt 
einen Teil des ersteren wieder. Um einen positiven Rechtsinhalt darzu- 
Stärkeren. 
Psychologie des 
Rechtes. 
Gesetztes 
und richtiges 
Recht.
	        
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