Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 453 
der großen aus der Ferne kommenden und wieder verschwindenden Seuchen brach 
sich ein ephemeres Verständnis dafür Bahn. Allein die Maßregeln gegen diese 
Seuchen waren nur polizeilicher Natur (fast nur Absperrung), und wenn die 
Gefahr verschwunden war, trat alles wieder in den früheren Zustand der 
Passivität zurück. 
Der Wandel der Ansichten in diesem Punkte begann zunächst mit 
der Gesundheitspolizei der Städte, welche hervorgerufen wurde durch das 
enge Beieinanderwohnen der städtischen Bevölkerung und, ausgehend von der 
Überwachung der Märkte und des Lebensmittelverkehres, zuerst die Über- 
zeugung von der Solidarität wenigstens einzelner sanitärer Interessen 
der ganzen Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Der Staat verhielt sich dem- 
gegenüber bis ins 18. Jahrhundert hinein ganz passiv. Man interessierte sich 
daher auch nicht im mindesten für die Bevölkerungsbewegung. Erst der 
Merkantilismus bereitete den Umschwung vor, indem er die Bevölkerungsver- 
mehrung (übrigens nicht aus humanitären, sondern) aus militärischen und 
wirtschaftlichen Rücksichten als sehr erstrebenswert betrachtete. Deshalb be- 
ginnt damals auch die Statistik und zwar mit der Bevölkerungsstatistik. 
Das Ereignis nun, welches Wandel schuf, war Jenners Entdeckung der Kuh- 
pockenimpfung (1796). Es ist auch für die Verwaltungslehre von epochaler Be- 
deutung gewesen. Der Staat begann jetzt die Impfung in die Hand zu nehmen, 
sie auf alle Weise, vielfach durch obligatorische Einführung (seit dem Anfang des 
19. Jahrhunderts) zu fördern. Damit war zuerst eine staatliche Gesundheits- 
pflege entstanden, welche über polizeiliche Tätigkeit hinausging. Weiter noch 
führten die schweren Choleraepidemien der dreißiger Jahre, welche mit großen 
proletarischen Bewegungen zusammenfielen, und endlich die bakteriologischen 
Entdeckungen der letzten Dezennien. Man begann zu begreifen, daß das Proletariat 
mit seinem Elend, seinem Schmutz, seiner Unwissenheit, seiner ungenügenden 
Ernährung, Kleidung und Wohnung zunächst ein beständiger Seuchenherd 
sei. Dazu kam, daß der Emanzipationskampf des Proletariats drohende 
Formen annahm. Die besitzenden Klassen fanden aus beiden Gründen ihre 
Interessen bedroht, und nunmehr regte sich auch ihr Gewissen. Es wurde 
ihnen klar, daß die besitziosen Klassen sich die Bedingungen hygienischen 
Lebens in der Familie, bei der Arbeit, hinsichtlich der Nahrungsmittel und 
der Wohnung nicht schaffen können und daß sie Krankheit weit schwerer 
belastet, da sie sich mit eigenen Mitteln nicht heilen lassen können und ihnen 
dadurch überdies ihr einziges Kapital, die Arbeitskraft, geraubt wird. Aus 
diesen Gedanken entstand zunächst eine größere Anpassung des Heil- und 
Medizinalwesens an die Interessen der besitzlosen Klassen, Erleichterungen 
in der Beschaffung unentgeltlicher ärztlicher Hilfe, Ambulatorien traten an 
die Seite der Kliniken, man begann die Städte zur Errichtung von Spitälern 
zu verpflichten. Sodann die Idee der Kranken- und Unfallversicherung 
der Arbeiter, die in einigen Staaten zu dem entschiedensten Schritt auf dem 
Wege zum Staatssozialismus, nämlich zur Zwangsversicherung geführt hat. 
Diese wirkt wieder sehr tief auf das Medizinalwesen zurück und es hat den 
Gesundheits- 
polizei.
	        
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