II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 455
Ineinandergreifen aller dieser Tätigkeiten kann ein einzelnes Stück derselben,
mag es an sich noch so vortrefflich sein, wirkungslos bleiben, ja direkt schäd-
lich wirken, wie beispielsweise die Abkürzung der Arbeitszeit ohne Schaffung
von Erholungsstätten für die Arbeiter.
Da die Volkswirtschaftspflege Gegenstand einer besonderen Darstellung
in diesem Werke ist, so müssen wir uns hier mit der Feststellung der haupt-
sächlichsten Gesichtspunkte begnügen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts drang das zuerst von den Physiokraten
ausgesprochene, dann von Adam Smith und seinen Nachfolgern tiefer be-
gründete Prinzip durch, daß der Staat sich auf den Rechtsschutz beschränken
und gleichwie die übrigen Gebiete des gesellschaftlichen Lebens, so auch den wirt-
schaftlichen Verkehr sich selbst überlasse soll (,‚Laisser faire, laisser aller‘‘).
Das ‚freie Spiel der Kräfte‘, so sagte der damalige Optimismus, führe die
Bevölkerung zu dem höchsten Maß des menschlichen Glückes. Gott habe in
die menschliche Natur den Eigennutz und den Trieb gelegt, diesen zu befrie-
digen. Folglich müsse die menschliche Gesellschaft, will sie nicht gegen Gottes
Ratschluß verstoßen, die Betätigung des Eigennutzes gewähren lassen, vor-
behaltlich der Repression gewisser Exzesse des Eigennutzes durch die Justiz
und Polizei. Die in letzter Linie auf die Lehren Calvins zurückgehende
Vorstellung, daß der Egoismus die „invisible hand‘ sei, welche wie eine
geheime Vorsehung den gesellschaftlichen Mechanismus leite und daß jeder
Akt der Staatsgewalt verfehlt sei, der die Wirkungen dieses ‚‚naturgesetzlichen‘“
Geschehens beeinflussen wolle, bildete die Grundlage eines in seiner Art groß-
artigen philosophischen Systems, in dessen Mittelpunkte die Freiheit und
Selbstverantwortlichkeit des Individuums stand. Der aus diesem System ent-
sprungene „Liberalismus‘‘ trat in schärfsten Gegensatz zum Polizeistaat, der
hauptsächlich durch seinen Einfluß beseitigt wurde. Leider nur zerstörte der
Liberalismus mit dem Polizeistaat fast all dessen wertvolle sozialpolitische
Elemente, den Schutz der wirtschaftlich Schwachen, den der Polizeistaat aus
guten Gründen zu einem seiner wichtigsten Programmpunkte gemacht hatte.
So gelangte man zu der verhängnisvollen Lehre, daß die Arbeitskraft eine
„Ware‘' sei, welche auf dem ‚‚Markte‘‘ verhandelt werde, wie ein Kaufmanns-
produkt. Abgesehen davon, daß dieser „Markt‘‘ nur in de rEinbildung der
liberalen Autoren existierte, ist die Gleichstellung des Proletariers, der seine
Arbeit sogleich verkaufen muß, widrigens er verhungert, mit dem Kaufmann,
der auf dem Markte einen Gewinn zu machen trachtet, so absurd, daß es heute
schwer fällt, an die Aufrichtigkeit dieses Gedankens zu glauben. Es fällt
um so schwerer, daran zu glauben, als die notwendige Konsequenz davon,
die volle Koalitionsfreiheit und das Streikrecht, dem Proletariat gerade in dem
Moment versagt wurde, als man im übrigen bekanntlich die „Freiheit‘‘ als
ein Menschenrecht proklamierte und die Staaten sich sonst in vielen Be-
ziehungen, so hinsichtlich der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit,
der Abschaffung der Wuchergesetze und Preistaxen, Beseitigung oder Ver-
minderung der Schutzzölle in der Tat den liberalen Prinzipien anschlossen.
„Liberalismus“
des 19. Jahr-
hunderts.