I. Der völkerrechtliche Verband. ı. Geltungsgebiet des Völkerrechts. 471
rechtlichen Verkehr innerhalb der Staatengesellschaft hergebracht sind, können
sie Rechtsansprüche für sich nicht herleiten. Aus der Nichtbeachtung solcher
Regeln erwächst ihnen keine völkerrechtliche Verantwortlichkeit. Die Fischerei-
reviere, Jagdgründe und Weidebezirke, in denen sie umherziehend hausen, sind
völkerrechtlich herrenlos. Ihre Stammhäuptlinge sind nicht Souveräne, deren
Boten nicht gesandtschaftliche Personen, die Eingeborenen nicht Staatsange-
hörige und ihre Kämpfe nicht Kriege. Auf welchem Fuße sie eintretendenfalls
zu behandeln seien, darüber entscheidet Recht, Religion, Kultur, Politik des
Staates, der mit ihnen in Berührung kommt oder kolonisierend ihre Gebiete
seinem Territorium einverleibt oder angliedert. Auch mögen Staaten ihnen
gegenüber ein gemeinsames Verhalten befolgen oder vereinbaren. Aber Verträge,
die mit ihnen geschlossen werden, kommen nicht als Staatsverträge in Betracht,
und militärische Expeditionen, die gegen sie unternommen werden, stellen
keinen Kriegszustand nach Völkerrecht dar. Das Völkerrecht, das ihnen un-
bekannt ist, gilt nicht für sie. Das Völkerrecht ist gegenseitiges Staatenrecht.
aber nicht universelles Menschenrecht.
Indessen auch innerhalb der gegenwärtig bestehenden Staatengesellschaft
sind doch nur die zivilisierten Staaten, d.h. die Länder christlich-europäischer
Gesittungsformen, die vollberechtigten Glieder des völkerrechtlichen Verbandes
Die Reiche des Islam haben erst allmählich und widerwillig das Bedürfnis ihm
sich anzuschließen empfunden. Ihre Verflechtung in den Interessenkreis der
führenden Mächte, ihre Anerkennung der Überlegenheit abendländischer Macht-
organisation und Wirtschaftspolitik legte es ihnen immer dringender nahe, sich
auch die Garantien der europäischen Rechtsordnung zu verschaffen. Die Kriege,
die sie zu führen hatten, und die im Bruche mit ihrer Glaubensregel unkündbar
geschlossenen Friedens-, Freundschafts- und Handelstraktate, die Bewilligung,
fremder Konsularjurisdiktion und die Anknüpfung ständiger diplomatischer
Beziehungen bedeutete für sie den Eintritt in die europäische Staatengemein-
schaft. Nur freilich bei dem tiefen und bewußten Gegensatz, der ihre Kultur
von der des Abendlandes scheidet und bei der immer klarer hervorgetretenen
Inferiorität dieser Kultur ist der Eintritt nicht auf dem Boden der Gleich-
berechtigung erfolgt. Sie haben eine weitgehende Überwachung, Kontrolle,
Bevormundung, Einmischung der Großmächte über sich ergehen lassen müssen.
Ihre Regentenhäuser sind nicht in den Krsis der europäischen Dynastien ein-
getreten, und das Fremdenrecht, das ihnen auferlegt worden ist, läßt sie als
Völkerrechtssubjekte zu gemindertem Rechte erscheinen. Vorangegangen ist
das türkische Reich. Der im Februar 1535 zwischen dem Großherrn und dem
Könige von Frankreich abgeschlossene Handelsvertrag hatte zum erstenmal
regelmäßige Verkehrsbeziehungen zu der Christenheit angeknüpft. Sie erweiter-
ten sich im 17. und 18. Jahrhundert durch die nach diesem Vorgange in großer
Zahl vereinbarten Kapitulationen, welche andere Länder, vornehmlich Groß-
britannien und die Generalstaaten, Venedig und Österreich, sowie die Nord-
mächte, Schweden, Polen, Rußland, Preußen auch für sich erlangten. In An-
lehnung an Frankreich wurde die Türkei zu einem alsbald nicht mehr gefürchte-
Die Staaten des
Islam.