I. Der völkerrechtliche Verband. 2. Der juristische Charakter des Völkerrechts. 475
Verkehrs. Allein solche Verbände sind lediglich vertragsmäßig. Sie sind un-
fähig, die Grundlagen des Völkerrechts zu verschieben. Eine politische Kon-
stituierung der Menschheit in der Weise des universellen Einheitsstaates,
wie sie das Mittelalter postulierte, in der Weise des Föderativstaates, wie sie
der Neuzeit als politisches Ideal vorschwebt, liegt bereits jenseits der völker-
rechtlichen Ordnung. Sie würde Staatsrecht an Stelle des Völkerrechts setzen.
Nur freilich der Mangel gesetzgeberischer, richterlicher, exekutiver Organe
des Staatenverbandes darf keineswegs ein Grund sein, um wissenschaftlich
unserem Völkerrecht die Eigenschaft des positiven Rechtes zu versagen, seinen
Sätzen lediglich die Bedeutung von moralischen Werturteilen ohne Gegen-
seitigkeit, oder von Usancen ohne rechtliche Bindekraft, oder von politischen
Postulaten ohne autoritativen Charakter zuzugestehen. Denn die Meinung,
daß alles Recht begrifflich nur als obrigkeitliches gedacht werden könne, ist eine
handgreifliche Einseitigkeit. Es ist nicht abzusehen, warum eine rechtliche
Ordnung nicht auch durch gemeinsame, tatsächliche Anerkennung der be-
teiligten Individuen hergestellt, getragen und durchgesetzt werden könnte.
Zeigt doch ein Rückblick auf die deutsche Vergangenheit, wie während des
Mittelalters das reich entwickelte bündnerische Rechtsleben mit seinen Friedens-
ordnungen, Tagsatzungen, Austrägen gerade für den versagenden Staatsschutz
sich das unentbehrliche Surrogat geschaffen hat. Die Behauptung, daß heute
die Staaten in Anarchie nebeneinander herleben, daß es zwischen ihnen keine
Rechtsverhältnisse gebe, daß der schwache Staat von Rechts wegen dem mäch-
tigen zum Opfer falle; daß der von einem Staate mit anderen geschlossene Ver-
trag eine gegenseitige Bindekraft nicht zu üben vermöge, weil das mit seiner
Souveränetät in Widerspruch stände: alle solche vielgehörten Aufstellungen
stehen mit der Wirklichkeit der Dinge in offensichtlichem Widerspruch. Daß
eine Regierung aus Gründen der Staatsraison sich mit Wissen und Willen über
völkerrechtliche Vorschriften hinwegsetzen könnte, ist eine gegenstandslose
Hypothese; und bereits mehrfach hat man bemerkt, daß viele Völkerrechts-
grundsätze so sicher stehen, wie irgendein Rechtssatz im Privatrecht irgend-
eines Staates, ja daß sie gesicherter sind und seltener verletzt werden als dic
Ordnungen des öffentlichen Rechts in den meisten Staaten.
Die zu dem völkerrechtlichen Verbande zusammengeschlossenen Staaten
sind weit davon entfernt, den namentlich in der Literatur der Deutschen und
der Engländer immer wieder erhobenen Bedenken gegen die Positivität des
von ihnen in täglicher Anwendung geübten internationalen Rechtes irgendeine
praktische Bedeutung beizulegen. Sie sehen in diesem nichts anderes als den
formellen Ausdruck der zwischen ihnen bestehenden Verkehrsgemeinschaft.
Kein Staat, auch der mächtigste nicht, vermag sich von den anderen, die mit
ihm gleichartige Zwecke verfolgen und gleichen Wesens sind, zu isolieren. Keiner
vermag die ihm obliegenden Aufgaben wirtschaftlicher und geistiger Kultur ein-
seitig von sich aus, sondern nur unter dem Entgegenkommen der anderen zu
lösen. Durch die politischen Grenzen läßt sich ihr Kulturleben nicht absperren.
Als Kulturträger sind die Staaten um ihrer selbst willen aufeinander angewiesen;