Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

480 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht. 
einer Veränderung unterliegen; oder wenn seine Selbständigkeit durch Eintritt 
in einen Gesamtstaat, oder seine Unabhängigkeit durch Ergebung in ein Schutz- 
verhältnis eine Schmälerung erleidet. Kein Staat kann sich der Haftung für 
die von einer usurpatorischen Zwischenregierung ausgegangenen Regierungs- 
akte entziehen. Die Verbindlichkeit der Staatsverträge ist nicht abhängig von 
dem Dasein der Regierung, die sie geschlossen hat. Wird die Staatsgewalt nur 
für einen Teil des Landes von einer fremden Regierung übernommen, so bestehen 
beide Mächte, die verkleinerte wie die erwerbende in ihrer Identität weiter. 
Für die letztere tritt, in Beziehung auf den neuen Erwerb, also partiell, Staats- 
folge ein. 
2. Unterschiede völkerrechtlicher Persönlichkeit. Die in stetem 
Wandel befindliche politische Gruppierung der Staaten tritt in Bestimmtheit, 
Ständigkeit und allgemeiner Bedeutung weit zurück hinter die rechtlichen 
Unterscheidungen, die ihre internationale Persönlichkeit treffen. Allerdings 
spricht der völkerrechtliche Verband jedem seiner Mitglieder als Regel die gleiche 
Rechts- und Handlungsfähigkeit zu. Aber diese Gleichheit mag durch Rechts- 
verhältnisse, in die sich ein Einzelstaat begibt, durchbrochen werden. Das 
Völkerrecht hat als Typen gebildet die beschränkte Rechtsfähigkeit der nicht 
voll souveränen Staaten; sodann die geminderte Handlungsfähigkeit abhängiger 
Staaten; endlich auch die Beschränkungen, welche eine Neutralisierung mit 
sich führt. 
Einheiautant. Normalerweise sind die Staaten Einheitsstaaten; die öffentlichen Angelegen- 
heiten werden unterschiedslos von einem Zentrum betrieben und Volk und Land 
sind einer einzigen Regierung untertan. Der Staat bleibt Einheitsstaat auch 
bei weitgehender Dezentralisation seiner Verwaltung, Autonomie seiner Pro- 
vinzen, Länder, Kolonien. Wie ein«infacher Staat pflegt die Realunion behandelt 
zu werden. Sie ist eine Sozietät monarchischer Staaten, diein rechtlicher Gegen- 
seitigkeit ein gemeinsames Oberhaupt anerkennen, womit eine einheitliche aus- 
wärtige Politik verbürgt wird. Völkerrechtliche Persönlichkeit wird auch dem 
Der Staatenbund. Staatenbunde (Konföderation) beigelegt, d.h. einem Vereine, zu welchem eine 
Vielheit souveräner Staaten behufs Verwirklichung von Gesamtinteressen der 
auswärtigen Politik sich körperschaftlich darh Organisation einer gemeinsamen 
höchsten Willensmacht (Bundestag, Kongreß, Tagsatzung) zusammengeschlos- 
sen hat. Die Bundesgenossen sind Glieder eines politischen Ganzen. Nur ist 
die Bundesgewalt keine Staatsgewalt. Sie gründet sich auf einen Vertrag, und 
für den Bund gelten die Regeln des völkerrechtlichen Vertragsrechts. 
Das Staatenreich. In Anerkennung des Völkerrechts steht mit der begrifflichen Einheit des 
Staates nicht in Widerspruch eine Organisation desselben, welche die öffent- 
lichen Angelegenheiten in gegenständlicher Sonderung zu einem Teil einem 
zentralen Verbande mit Staatsnatur, zum anderen Teil den jenem (dem Reiche) 
als Staaten eingegliederten Territorialverbänden, den Partikularstaaten (Kan- 
tonen, Staaten schlechtweg, Territorien, hier und da auch als Provinzen be- 
zeichnet) zuweist. In dem verfassungsmäßigen Zusammenwirken von Ober-
	        
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