neutralisierte
Staat.
Die
Gebietshobeit.
482 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
treten. Aus dieser Verantwortlichkeit für ihn ergibt sich aber die Befugnis,
dessen auswärtige Politik zu überwachen und zu kontrollieren, zu welchem
Zwecke er auch wohl mit dem Rechte ausgestattet wird, die Pflege der amtlichen
und vertragsmäßigen Beziehungen des Schutzstaates mit dem Auslande in die
eigene Hand zu nehmen. Solchen anormalen Verhältnissen gegenüber erscheint
die Unabhängigkeit des souveränen Staates als die Regel des Völkerrechts.
Sie wird nicht aufgehoben durch tatsächliche Anlehnung an eine fremde Re-
gierung, auch nicht durch Vertragsschlüsse, selbst wenn diese das staatliche
Wollen in energischer Weise binden oder gar demütigen.
Einem Staate wird, wenn auch nicht die Unabhängigkeit genommen, so
doch die Freiheit seiner Politik geschmälert durch Übernahme immerwährender
Neutralität. Eine solche setzt voraus ein Interesse der gesamten Staaten-
gesellschaft und stellt ein Vertragsverhältnis zwischen ihr und dem neutrali-
sierten Staate her. Der letztere übernimmt die Verbindlichkeit, bei jedem
eintretenden Kriegsfall fremder Mächte neutral zu bleiben; also eine militärische
Besetzung oder Benutzung des Landes durch eine ausländische Regierung nicht
dulden zu wollen. Als Gegenleistung erhält er seitens der die Erklärung formell
akzeptierenden Regierungen die Zusicherung, daß sie seine Stellung achten,
also weder zu Kriegs- noch zu Friedenszeiten etwas tun werden, was deren
Festhaltung beeinträchtigen könnte. Durch einen Garantievertrag kann eine
derartige Zusicherung verstärkt werden. Da nun aber die Möglichkeit, im Kriege
neutral zu bleiben, durch die Politik im Frieden bedingt ist, so liegt dem mit
Neutralität belegten Staate die ständige schwer zu erfüllende Verpflichtung
ob, solche Akte der auswärtigen Politik zu unterlassen, die dieser Stellung
präjudizieren könnten. Insbesondere in Allianzen darf er sich nicht einlassen.
Eine Teilnahme an der großen Politik ist ihm versagt.
Zurzeit befinden sich in der Rechtsstellung ewig neutraler Staaten folgende
Mächte: Die Schweizerische Eidgenossenschaft vermöge der Wiener Kongreß-
akte vom 9. Juni 1813 A. 84. 92 und der Neutralitätsakte vom 20. November
1815; das Königreich Belgien in Gemäßheit des Separationsvertrages vom I5. No-
vember 1831 A. 7. 25 und der Verträge vom 19. April 1839; der Eintritt
Belgiens in die Reihe der Kolonialmächte durch Erwerb des Kongostaats, mit
Zessionsvertrag vom 28. November 1907, hat diese Neutralität und ihre Garantie
an sich nicht berührt; endlich das Großherzogtum Luxemburg seit dem Lon-
doner Vertrage vom 11. April 1867.
3. Der einzelne Staat in seinen völkerrechtlichen Bezie-
hungen. I, Insofern sich die Staatsgewalt fremden Mächten gegenüber in der
souveränen Herrschaft auf einem abgegrenzten Stücke der Erdoberfläche be-
tätigt, pflegt sie mit einem in der Gedankenwelt des deutschen Patrimonial-
staats geprägten Ausdruck als Gebietshoheit, in naturrechtlicher Terminologie
als Staatseigentum bezeichnet zu werden. Damit wird gesagt, daß das staat-
liche Recht eine territoriale Ordnung ist. Alle Personen und Sachen, die sich
innerhalb der Landesgrenzen befinden, unterliegen der Bestimmbarkeit durch