VI. Dice Rechtsverhältnisse des Staatenverkehrs. ı. Die Rechtsgeschäfte. 499
worden. Die Haager Convention pour le Reglement dacifique des conflits inter-
nalionaux vom 18. Oktober 1907, A. 2—8, legt den Gliedern des durch sie ge-
schaffenen Schiedsverbandes, von dem alsbald die Rede sein soll, die Ver-
pflichtung auf, im Falle einer ernsten Meinungsverschiedenheit oder eines Streites,
bevor sie zu den Waffen greifen, die guten Dienste oder die Vermittelung be-
freundeter Mächte anzurufen, soweit dies die Umstände gestatten werden. Und
sie anerkennt für jedes von ihnen die Befugnis, aus eigenem Antriebe beides an-
zubieten, ohne seiner Stellung als freundliche Macht zu präjudizieren. Im
Gegensatz zu diesen Verfahrungsweisen sucht die Interzession (im besondcren
Sinne) das Zustandekommen des erstrebten Vertrages durch alle den Umständen
entsprechende Mittel, selbst durch Waffengewalt herbeizuführen. Die Ka-
tastrophe von Navarin (20. Oktober 1827) gab eine fürchterliche Illustration
solchen Verfahrens.
Unter den Staatsverträgen pflegt eine, freilich im einzelnen nicht immer Einteilung der
beobachtete Terminologie mit Rücksicht auf die Erheblichkeit des Inhalts -taatsverträge.
und die Solennität der Form zu unterscheiden: die Akten und Deklarationen,
die Verträge i. e. S. (Traites), die Übereinkünfte oder Abkommen (Conventions),
endlich die Kartelle; mit dem letzteren Ausdruck werden regulatorische Ab-
reden über Spezialitäten des amtlichen Verkehrs in bezug auf Rechtspflege,
Polizei- und Militärwesen bezeichnet. Vielfach zerlegt ein bestehendes Vertrags-
netz formell sich in den Hauptvertrag und die darauf Bezug nehmenden Separat-
artikel, Schlußprotokolle, Zusatzverträge.
Materiell ist die Vertragsfreiheit der Staaten, wie im heutigen privaten
Schuldrecht, nicht beschränkt auf gewisse Kontraktstypen. Essentialien und
Naturalien des Rechtsgeschäfts gibt es hier nicht. Nur aus dem einzelnen Ver-
trage selbst, seiner Entstehungsgeschichte, seinem Zwecke und dem, was Treu
und Glauben erfordert, ist das durch ihn begründete Rechtsverhältnis zu ent-
nehmen und mit den Mitteln juristischer Kunst zu entwickeln, wobei dann
freilich das heutige römische Recht, ein gemeinsames Kulturgut der zivilisierten
Welt, die unentbehrlichen, überall anzuerkennenden und überall anerkannten
wissenschaftlichen Gesichtspunkte vermittelt. Nur unter Verwendung der von
ihm gestellten juristischen Kategorien läßt sich Inhalt, Umfang und Tragweite
eines Vertragsanspruchs auch im einzelnen mit der für den Verkehr erforder-
lichen Bestimmtheit zur Feststellung bringen. Lediglich ein praktisches Ord-
nungsbedürfnis ist es, das zu einer rubrikenmäßigen Sonderung der Staats-
verträge nach gegenständlicher Verschiedenheit geführt hat. Sie pflegt ter-
minologisch in der ihnen amtlich gegebenen Bezeichnung zum Ausdruck zu
kommen, wobei die stereotype Formulierung der gleichartige Verhältnisse in
gleicher Weise regelnden Stipulationen Anhaltepunkte gewährt. Versucht man
die hiernach in kaum übersehbarer Mannigfaltigkeit begegnenden Vertrags-
arten unter juristischen Gesichtspunkten systematisch zu gliedern, so gelangt
man zu einer Dreiteilung. An oberster Stelle stehen heutzutage die großen,
meist auf Kongressen verhandelten Kollektivverträge der Mächte, welche be-
stimmt sind, einen neuen Rechtszustand zwischen ihnen zu schaffen und zu
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