Rechtsquellen,
Gesetz und
Gewohnbeit.
32 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
Sonach bleibt als Aufgabe dieses Zusammenhanges nur die zweite Frage,
die wir beim Beginne dieses Abschnittes genannt haben: nach der Entstehung
und Veränderung bestimmter Rechtseinrichtungen im Laufe der Geschichte.
Sie kann in zweifacher Richtung aufgenommen werden, je nachdem man die
formale Art der menschlichen Handlungen, die rechtliche Regeln setzen, unter-
sucht — oder nach den bestimmenden Einflüssen und bewirkenden Gründen
rechtlicher Veränderungen allgemein forscht.
Die zuerst angeführten menschlichen Akte nennen wir seit längerem
Rechtsquellen. Die hierüber aufzustellende Lehre ist jedoch lediglich eine
solche der technischen Jurisprudenz und gründet sich in ihrer ganzen Aus-
führung auf den besonderen Inhalt einzelner Rechtsordnungen. Das Recht,
sagt Brinz, enthält vor allem Bestimmungen über sich selbst. Es gibt in eigenen,
von ihm gesetzten Regeln an, wie es geändert, abgeschafft und ergänzt werden
soll, wobei die verschiedenen Rechtsordnungen außerordentlich mannigfaltigen
Inhalt aufweisen. Auch die Einteilung in Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht
— Setzung der Regel durch bewußten Akt bestimmter, dazu berufener Men-
schen, oder aber durch tatsächliche Übung und andauernde gleichmäßige An-
wendung einer als Recht angenommenen Norm — harrt stets erst noch der
näheren Ausfüllung durch besonderen, geschichtlich bedingten Inhalt einer
positiven Rechtsordnung.
Allerdings ist zuweilen versucht worden, die Lehre von den Rechtsquellen
von dieser geschichtlichen Bedingtheit freizumachen und allgemeingültig auf-
zubauen. Namentlich ist das bei der Erörterung des Verhältnisses von Gesetz
und Gewohnheit geschehen. Die herrschende Lehre des 18. Jahrhunderts nahm
als grundlegende Rechtsquelle die staatliche Gesetzgebung an, von der ein recht-
lich geltender Brauch in jedem einzelnen Falle erst sanktioniert werden müßte
und ohne das keine Geltung zu haben vermöchte; die darauf folgende geschicht-
liche Rechtsschule stellte umgekehrt die Gewohnheit als die eigentliche Quelle
des gesetzten Rechtes hin, die von jeder Rechtsordnung notwendig anzuer-
kennen wäre und von ihr als rechtsschöpferisch gar nicht verneint werden
könnte, bei Meidung der Nichtigkeit eines sie doch ausschließenden positiven
Staatsgesetzes. Beide Meinungen verstoßen gleichmäßig gegen den oben (A. I
a. E.) deduzierten Satz, daß es keinen einzigen Rechtssatz geben kann, der
seinem positiven Inhalte nach unbedingt feststände. Auch die Anordnung
eines bestimmten positiven Rechtes über Anerkennung oder Verwerfung
einer auf Rechtsfragen bezüglichen Gewohnheit bedeutet notwendig eine stoff-
lich bedingte Regel, über deren besonderen Inhalt sich schlechterdings
nichts sagen läßt, was absolute Gültigkeit hätte. Wenn also Puchta lehrt,
daß der Einfluß der ‚„Volksüberzeugung‘ auf den Richter sich nicht verbieten
lasse, so kann das, in Abänderung seiner eigenen Meinung, für uns nur den ver-
ständlichen Sinn haben, daß ein das Gewohnheitsrecht verbietendes Geset2
möglicherweise keinen Erfolg haben könne, daß man vielmehr stets ge-
wärtig sein müsse, daß gegen jenes bestehende bestehende Gesetz sich auf
anderem Wege doch vielleicht neues ‚Recht‘ bilden werde. Diese Möglichkeit