Die bewaffnete
Neutralität.
534 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
Während des nordamerikanischen Freiheitskrieges (1775— 1783), den Groß-
britannien unter erstaunlicher Entfaltung seiner Machtmittel fast in allen
Weltteilen führte, gelang es der Initiative der Kaiserin Katharina II. von
Rußland, zum erstenmal die neutralen Mächte zu einem gemeinsamen Vor-
gehen gegen die unerträgliche Willkür der Kriegsparteien zu vereinigen. Nach-
dem das Programm hierfür in der fünf Punkte enthaltenden russischen Dekla-
ration an die Höfe von London, Versailles und Madrid vom 28. Februar (a. St.)
1780 verkündet worden war, trat zu dessen Durchführung die (erste) bewaffnete
Neutralität zusammen. Es wurde nämlich durch die beiden übereinstimmenden
russischen Konventionen mit Dänemark vom 9. Juli 1780 und mit Schweden
vom I. August 1780 eine Defensivallianz der drei Mächte zu gegenseitigem
Schutze ihres neutralen Handels- und Schiffahrtsverkehrs geschlossen; zunächst
für den obschwebenden Krieg, aber mit der Absicht, die darin niedergelegten
Rechtssätze, Duises dans le code primitif des peuples, zu universeller An-
nahme zu bringen. In diesen Dreibund wurden dann in den Jahren 1781—1783
noch fünf weitere Mächte, nämlich die Niederlande, obwohl alsbald krieg-
führende Partei geworden, Preußen, Österreich, Portugal, Sizilien teils mit
Akzessionsverträgen, teils durch Adhäsion aufgenommen. Die verabredeten
Schutzmaßregeln bezogen sich auf das Recht freier Schiffahrt nach den Häfen
und Kolonien der kriegführenden Mächte; auf das Recht, feindliche Waren zu
befördern, mit Ausnahme von Konterbande; auf die Beschränkung der Konter-
bande je nach Maßgabe der speziellen, wenn auch unter sich disharmonieren-
den Verträge mit jedem der beiden im Kriege befangenen Staaten; endlich
auf die Effektivität der Blockaden. Nur bei Anwendung dieser Regeln sei eine
gemachte Prise als rechtmäßig anzuerkennen. Dagegen über die Verfrachtung
neutraler Güter auf Schiffen der Belligerenten schwiegen Deklaration und
Verträge.
Es war der erste, großartig in Szene gesetzte Anlauf auf der im 19. Jahr-
hundert erfolgreich beschrittenen Bahn, das Völkerrecht durch vertragsmäßige
Rechtssetzung fortzubilden. Als das Programm eines neuen Rechtszustandes
hat das System der bewaffneten Neutralität eine bleibende Bedeutung ge-
wonnen, auch die Gegenwart ist nicht darüber hinausgekommen. Freilich zu-
nächst hatte der tatsächlich gegen England gemünzte Vorstoß, ausgehend von
Seemächten zweiten Ranges und von Großmächten ohne Kriegsmarine, das
internationale Seerecht in neue Wege zu lenken, nur einen ganz vorübergehen-
den Erfolg. In die Friedensschlüsse von 1783 wurden die vereinbarten Sätze
nicht aufgenommen. Auch gegenüber der durch den Europäischen Krieg mit
dem republikanischen Frankreich erneuten und vervollständigten (zweiten)
bewaffneten Neutralität vom 16. und 18. Dezember 1800 bestand England im
Prinzip auf dem, was es „sein Seerecht‘‘ nannte und gab diesem eine maßlose
Erweiterung durch sein Blokadesystem und seine Handhabung des Visitations-
rechts (Geheimratsorders vom 16. Mai 1806 mit fiktiver Blokade der Küste
von Brest bis zur Elbe, verschärft 7. Januar 1807; ıı. November 1807). Mit
steigender Gewalttätigkeit, in entsetzlichem Wetteifer, in bis zur Raserei er-