Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

VIII. Der Krieg und sein Recht. 6. Das Recht der Neutralen zur See. 535 
hitztem Ingrimm reagierten die Kriegsgegner, Napoleon durch das mittels der 
Dekrete von Berlin (21. November 1806) und von Mailand (17. Dezember 1807) 
proklamierte Kontinentalsystem, welches jeden Handelsverkehr mit England, 
mit Engländern, mit englischen Waren unterdrückend, auf ein Aushungerungs- 
system abzielend, bis 1814 gedauert hat. Das Recht der Neutralität schien 
aus dem Völkerrecht ausgelöscht zu sein. 
Die allgemeine Pazifikation brachte keine Regelung des Seekriegsrechts. 
Aber zahlreiche seitdem geschlossene Handelsverträge kamen auf die Grund- 
sätze der bewaffneten Neutralität zurück. Nur Großbritannien, nicht geneigt, 
sich im Seekriege als neutrale Macht zu denken, hielt sich fern von Kompro- 
missen über Prinzipien, die ihm die unverrückbare Basis seiner Weltstellung 
bedeuteten. Erst die gänzlich veränderte politische Lage, welche der orienta- 
lische Krieg 1854 vorfand: die Entente der Westmächte und die Gefahr, die 
von jenseits des Ozeans auftauchte, veranlaßte auch die englische Regierung 
zu Konzessionen. Sie sind dauernd geworden durch die Pariser Seerechts- 
deklaration vom 16. April 1856, deren die Kaperei betreffende Regel I bereits 
oben besprochen ist. Die Regeln II—IV, deren Inhalt an sich die Anerkennung 
heutzutage nirgends mehr versagt wird, lauten dahin: 
II. Le davillon neutre couvre la marchandise ennemie, d l’excediion de 
la contrebande de guerre. Also die Regel II der bewaffneten Neutralitäten 
von 1780 und 1800; die alte Klausel der französischen Verträge aus dem 
ancien regime, aber ohne Komplement. Daß auch fiskalisches Eigentum eines 
Kriegführenden durch die neutrale Flagge gedeckt wird, und daß auch neutrales 
Konterbandgut nicht frei ist, unterliegt keinem Zweifel. 
Ill. La marchandise neutre, 4 l’exception de la contrebande de guerre n’est 
has saisıssable sous bavillon ennemi. Also die alte Maxime der Engländer. 
An neutralem Frachtgut wird keine Seebeute gemacht. 
IV. Les blocus, pour &tre obligatosres, doivent ötre effechifs, c’est-d-dire 
maintenus dar une Jorce suffisante dour interdire reellement l’acces dw hittoral 
de VP’ennemi. Zugrunde liegt Regel III der bewaffneten Neutralitäten von 
1780 und 1800. Aber die präzisen dort ausgesprochenen tatsächlichen Vor- 
bedingungen für die Effektivität der Blockade sind nicht übernommen worden, 
da England widersprach. 
Die drei Regeln sind, wie man sieht, lückenhaft, so epochemachend sie 
sich auch für ihre Zeit darstellen. Unter welchen Voraussetzungen eine Kriegs- 
macht die neutrale Flagge eines Handelsschiffes, zumal nach bewirktem Flaggen- 
wechsel als rechtmäßig geführt anzuerkennen habe, ob sie etwa durch Kolonial- 
handel und Kabotage in feindlichem Interesse verwirkt werden könne, 
darüber ist nichts gesagt. Für die Frage, nach welchen Rechtsgrundsätzen 
sich die neutrale Eigenschaft der Ware bestimme, sind keine Anhaltspunkte 
gegeben. Vor allem fehlt, im Gegensatz zu den Vorgängen von 1780 und von 
1800, jeder Hinweis darauf, welche Waren im Einzelfalle als Kriegskonterbande 
behandelt werden dürfen; desgleichen, ob nicht auch andere Tatbestände als 
Blockadebruch und Konterbande der neutralen Flagge den proklamierten
	        
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