Die Londoner
Seerechts-
deklaration.
536 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
Schutz entziehen? In allen diesen Punkten bestand also für Belligerenten kein
völkerrechtliches Hindernis, die eigenen, wechselnden, unter sich divergieren-
den Rechtsanschauungen auch weiterhin zur Geltung zu bringen. An dem
vorgefundenen Rechtszustand, der durch seine Zwiespaltigkeit, Systemlosig-
keit, Wilikürlichkeit bei jedem neuem Kriegsfall die Sicherheit des neutralen
Seehandels immer aufs neue bedrohte und bedrückte, hatte die Pariser Dekla-
ration, abgesehen von dem Prinzip der Regel II, praktisch nur wenig geändert.
Die vielbeklagten Lücken auszufüllen und zugleich eine Reihe damit zu-
sammenhängender Rechtsfragen, die die neuesten Seekriege aufgeworfen haben,
in einträchtigem Zusammenwirken der Mächte zu erwünschter Lösung zu
bringen, das war das große Anliegen, das sich die sorgfältig vorbereitete See-
kriegskonferenz, die in London vom 4. Dezember 1908 bis 27. Februar 1909
tagte, gestellt hat. Ihr Werk, die oben bereits vielfach in Bezug genommene
Deklaration vom 26. Februar 1909, knüpft sich an die HC XII vom 18. Ok-
tober 1907, durch welche die zweite Haager Friedenskonferenz die Errichtung
eines internationalen Prisenhofs vereinbart hatte. Hier heißt es nämlich, A.7,
die neue prisengerichtliche Rekursinstanz solle bei den von ihr zu entscheiden-
den Rechtsfragen anwenden: in Ermanglung vertragsmäßiger Bestimmungen
les rögles dw droit international; und wenn allgemein anerkannte Regeln nicht
bestehen, entscheiden d’apres les principes de la justice ei de l’Eqwite. Diese
wahrhaft kühne, der freien Rechtsfindung des geplanten internationalen
Gerichtshofs einen kaum übersehbaren Spielraum lassende Formulierung gab
nun das Motiv ab, aus welchem die in London zusammentretenden Seemächte
jene allgemein anzuerkennenden Regeln des Völkerrechts, unter Ausgleichung
der bei ihrer Handhabung bestehenden nationalen Gegensätze, zu vertrags-
mäßiger Feststellung gebracht haben. Und zwar ist die Londoner Seekriegs-
rechtsdeklaration bestimmt, nicht allein eine Jurisdiktionsnorm für den inter-
nationalen Prisenhof zu schaffen; vielmehr will sie, unabhängig von der Stellung,
die diesem gegenüber die Staaten einnehmen werden, eine eigene Rechtsgemein-
schaft der beitretenden Regierungen unter sich begründen. Sie bildet trotz
der Mannigfaltigkeit ihres Inhalts, ein unteilbares Ganze, allerdings zunächst
nur auf Zeit. Formell stellt sie das Recht der Neutralen im Seekriege auf eine
neue völkerrechtliche Basis. Daß aber inhaltlich die von ihr aufgestellten
Regeln en substance dem geltenden Völkerrechte entsprechend sind, haben
die vertragenden Teile nicht allein durch ihre vorbehaltlos abgegebene Signatur
anerkannt, sondern in der besonderen Erklärung des Prooemiums ausdrücklich
festgestellt. Freilich ratifiziert worden ist bis jetzt weder die Deklaration
noch die mit ihr zusammenhängende Konvention über den Prisenhof. Aber es
ist ein Werk von unverlierbarem Werte geschaffen worden. Un grand das vers
Pinstitution Eventuelle d’un code de droit maritime ist getan, so sagte mit
Recht der Vorsitzende der Konferenz, Lord Desart, beim Abschluß ihrer
Verhandlungen.
Charakterisiert hat die Londoner Konferenz die von ihr beschlossenen
Neutralitätsregeln als eine „media sententia‘‘ zwischen den divergierenden