III. Die Rechtsphilosophie. 561
Gewalt kann als solche nicht den Anspruch erheben, eine unbedingte und
letzte Norm abzugeben: Sie unterliegt selbst wieder der Messung an einem Maß-
stabe über ihr. Dieses Ringen nach Festigkeit und Unabhängigkeit gegenüber
der bedingten Anordnung konkreter Rechtssätze ist in dem geschlossen ge-
nommenen Kreise der Juristen des 19. Jahrhunderts übermäßig zurückgetreten;
ihm in seinem begründeten Fragen und Forschen wieder zur rechten Anerken-
nung zu verhelfen und an seiner wissenschaftlichen Förderung und tunlichsten
Lösung mitzuarbeiten, das ist die größte der Zukunftsaufgaben, die
der heutigen Rechtswissenschaft gesteckt sind.
Ein Vermeiden dieser Aufgabe als solcher geht ohne logischen Widerspruch
nicht an. Auch wer sagen wollte, daß er eine „rechtsphilosophische‘' Unter-
suchung gar nicht als möglich anerkenne, der hätte damit gerade schon eine
dazu gehörige Erwägung begonnen. Denn die Eigenart der Rechtsphilo-
sophie liegt in der Frage nach dem, was sich als unbedingt allgemein für alles
denkbare Recht lehren läßt, und dazu würde auch eine radikal zweifelnde und
verneinende Antwort auf jene Frage — wie der soeben angenommene skep-
tische Einwurf — bereits zählen, freilich nun auch des Nachweises in geschlosse-
ner Deduktion bedürftig sein.
Falls aber jemand unternehmen möchte, zur Begründung eines bestimmten
Rechtes und seiner Erforschung und Lehre (z. B. des römischen Rechtes und
dessen wissenschaftlicher Behandlung) sich auf die Notwendigkeit des geschicht-
lichen Werdens, auf ‚Entwicklung‘ oder ‚„Trägheitsgesetz‘‘ in der Geschichte
und anderes mehr zu berufen, so wäre das wieder nichts, als ein Versuch zu
sachlicher Rechtfertigung gewisser bedingter Rechtseinrichtungen durch Be-
zugnahme auf ein unterliegendes, einheitlich geltendes Grundgesetz. Wir
sind also mit jener Berufung mitten in der rechtsphilosophischen Frage
darin, und die danach nicht zu umgehende Aufgabe geht somit dahin, den an-
geschlagenen Gedanken nicht in einem bloßen Stichworte stehen zu lassen,
sondern folgerichtig auszudenken. Es gilt zu prüfen, was mit den zitierten
Aufstellungen in grundsätzlicher und schlechthin allgemein zutreffender Weise
eigentlich gemeint ist, und ob das also notwendig Gemeinte dem kritischen Ur-
teile sachlich standhalten kann.
Auf die Feststellung dieser tiefgründenden Aufgabe der Rechtswissen-
schaft haben wir an dieser Stelle uns zu beschränken. Was programmatisch zu
ihrer weiteren Inangriffnahme in dem vorliegenden Zusammenhang auszuführen
ist, ergibt sich unmittelbar aus der Grundlegung des Aufsatzes über „Das
Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft‘, der den vorliegen-
den Band dieses Werkes einleitet. Dort findet sich insbesondere auch die Art
einer grundsätzlich begründeten Rechtspraxis des genaueren erwogen, und ein
Finden von richtigem Rechte sowohl in der Rechtsprechung, wie für Reform-
bestrebungen der Politik näher beschrieben.
Sonach sei hier nur darauf erneut hingewiesen, wie bei dem Entwerfen
unseres nunmehrigen wissenschaftlichen Problems und in der Art seiner Auf-
lösung zweierlei gegenüber allen seitherigen rechtsphilosophischen Bemühungen
Kultur der Gegenwart. 11. 8. 2. Aufl. 36