52 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
unbedingt autarchische Geltungsanspruch des Rechtes innerlich ge-
rechtfertigt werden?
Wir nannten im Eingange einige einzelne Beispiele von problematisch ge-
wordenen Einzelfällen, die sich leicht vermehren ließen. Vor allem würde hier
auch die interessante Aufstellung Sohms zu nennen sein, wonach die recht-
liche Verbindung der Kirche mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch
stehe; ein Kirchenrecht könne es genau genommen gar nicht geben, die Zu-
gehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft und die Gebundenheit an deren
Normen müsse der freien Zustimmung jedes Einzelnen in jeder Zeit überlassen
bleiben. Aber ich möchte lieber gleich, in Überspringung solcher Anzweifelung
der Berechtigung des Rechtszwanges in einzelnen Fragen, diejenige gegen-
überstellen, die in der Gegenwart im ganzen geschieht. Dies liegt in der
Anarchismus. Theorie des individualen Anarchismus vor, wie sie von Stirner (‚Der Einzige
und sein Eigentum‘‘, 1844) begründet worden ist. Hiernach sei die rechtliche
Regelung von vornherein kein geeignetes Mittel zur Erzielung eines rechten
gesellschaftlichen Daseins der Menschen; denn ihr hafte der selbstherrliche
Zwang an, und dieser müsse unbedingt als unrichtig und ungeeignet erscheinen,
gleichviel wie der Inhalt einer derartigen Zwangsregel beschaffen sei. Die einzig
begründete Form des sozialen Lebens sei daher (wie wir uns ausdrücken würden)
die konventionale Regelung des Zusammenlebens.
Es ist nicht ohne Interesse, zu gewahren, wie der moderne Sozialismus
(vgl. A. 3) mit dieser anarchistischen Aufstellung wenig hat anfangen können,
sogar ihr gegenüber meist etwas hilflos erscheint. Soweit er in beachtenswerter
Dynamischa Art sich darüber hat vernehmen lassen, so hat er versucht, in dynamischer
a ng des Erörterung das Problem zu erledigen. Dann meint er, daß der Rechtszwang
zwanges.
sich geschichtlich in notwendiger kausaler Bedingtheit eingestellt habe, und
daß er immer als notwendiges Produkt wirtschaftlicher Verhältnisse auftreten
werde. Dies kann dann doppelt gemeint sein: a) die Menschen werden sich
nach physiologisch verursachtem Drucke immer gewissen sozialen Befehlen
und Regeln fügen, welche rechtliche Eigenschaften haben. — Aber dies
übersieht, daß der Anspruch des Rechtes der ist: ohne Rücksicht auf die Zu-
stimmung der Unterworfenen zu gelten; es würde also auch die etwa kausal
erklärte Herkunft einer solchen Zustimmung hier ohne Belang sein. b) Die
sozialen Gewalthaber werden sicherlich immer bei der Anwendung des Rechts-
zwanges verbleiben. — Nun sind jedoch die rechtlichen Anordnungen an und
für sich Mittel zu menschlichen Zwecken; als solche können sie in ihrer Eigen-
art nur so gerechtfertigt werden, daß sie als unvermeidliches Mittel zu not-
wendigem Zwecke sich erweisen.
Teleologische Die hiernach veranlaßte teleologische Erwägung ist denn auch zu be-
Begründungen. oründender Deduktion des Rechtes mehrfach unternommen worden.
Vor allem hat man gemeint, daß das Recht ein unerläßliches Mittel zu
möglicher Sittlichkeit des Menschen sei. — Aber ein sittlich gutes Wollen
kann durch rechtliche Befehle zwangsweise überhaupt nicht herbeigeführt wer-
den, da es bei jenem auf den Inhalt wünschender Gedanken und die Eigenart