Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Die Wahl unter 
bediagten 
Möglichkeiten 
rechtlichen 
Wollens. 
Kritische 
Prüfung des 
technisch ge- 
tormten Rechtes. 
58 RCDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
Rechte nicht als eine ‚‚frei schöpferische‘‘ Tätigkeit zu denken, die den Stoff 
von prinzipiell begründetem Rechtswollen ‚neu hervorbrächte‘‘, sondern es 
ist ein Auswählen unter verschiedenen Möglichkeiten. Diese werden dem 
Urteiler in der Erfahrung geliefert, als einander widersprechendes Begehren, — 
sei es in der Rechtspraxis engeren Sinnes (de lege lata), oder in der Politik 
(de lege ferenda). 
Zur Durchführung dieser Art des Schließens haben wir uns der oben (E. 5) 
entwickelten Grundsätze des richtigen Rechtes zu bedienen. Diese 
sind aber, wie dort bereits hervorgehoben wurde, nur formale Richtlinien 
zu der Vornahme einer sachlich begründeten Wahl. Wir hatten es vorhin 
schon in Kürze ausgesprochen. Es ist nun näher dahin zu denken, daß im wirk- 
lichen Verlaufe des sozialen Lebens konkrete Bestrebungen und Anforderungen 
bestimmten Inhaltes auftreten. Wenn derartiges nicht vorliegt, und kein be- 
dingtes Streben und Wollen besteht, so haben wir die Aufgabe, im besonderen 
Falle richtiges Recht herzustellen, überhaupt nicht. So aber bestehen jedes- 
mal die Möglichkeiten verschiedener Wahl zwischen entgegengesetztem Wollen 
und Beanspruchen, das in dieser Gegensätzlichkeit entweder wirklich vorliegt 
oder in Gedanken sich also vorgestellt werden kann. Die alsdann auftretenden 
Wahlmöglichkeiten werden nun jeweils prinzipiell geprüft, indem man fragt, 
wie in dieser Sondergemeinschaft, in die man die Streitenden in Gedanken ein- 
fügt, entweder diese oder jene Möglichkeit mit den Grundsätzen des richtigen 
Rechtes bestehen kann. Bei dem Bejahen solcher Harmonie für die eine zur 
Wahl gestellte Entscheidung erhält man den Obersatz des aufgegebenen Ur- 
teiles, den Untersatz bildet die tatsächliche Feststellung des abzuurteilenden 
Tatbestandes, der Schluß ergibt sich alsdann. Wenn man dafür gesagt hat, 
der Richter habe beim Entscheiden nach richtigen Rechtsgrundsätzen sein 
Urteil nach der Regel zu fällen, die er als Gesetzgeber aufstellen müßte — so 
neuestens die Anweisung des schweizerischen Zivilgesetzbuches Art. I —, so ist 
das wohl begründet: auch der Gesetzgeber erhält den von ihm zu bearbeitenden 
Stoff in Forderungen und Bestrebungen geliefert und hat ihn dann in richtiger 
Art technisch gut zu bearbeiten. 
Dieses führt zu einer zweiten Anwendung der Lehre von dem richtigen 
Rechte: der kritischen Prüfung des technisch geformten Rechtes und dem Ur- 
teile, ob das geltende oder ein ihm widersprechendes rechtliches Wollen für 
richtig zu befinden sei. — Zwar hat es Juristen gegeben, welche hier auf strikter 
Arbeitsteilung bestehen und die genannte Aufgabe aus den Erwägungen eines 
Rechtsgelehrten ganz verbannen wollten. Aber darf ein denkender Mann mit 
solcher zunftmäßigen Abgrenzung sich unbedingt begnügen? Wird nicht ge- 
rade der technisch arbeitende Jurist die Tätigkeit und Ergebnisse des Gesetz- 
gebers nur zu gerne doch wieder kritisch auf das Korn nehmen, da ihm ja sein 
begrenztes Feld der Tätigkeit durch jenen eigenartig zugemessen und dann 
wieder geändert wird? Sobald er aber darauf eingeht, kann es auch nicht ge- 
nügen, eine bestimmte rechtliche Änderung als „praktisch unbrauchbar“ zu 
kennzeichnen, das heißt für die glatte Erledigung der dem Praktiker zu-
	        
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