Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Zwingend und 
nachgiebig im 
heute geltenden 
Recht. 
60 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
Deutschland wenig beachtet. Die hier seit einigen Jahren aufgetretene Richtung 
der „freien Rechtsfindung‘‘ nimmt, soviel man sieht, bis jetzt keine Rücksicht 
auf ihn, obgleich sie doch in der Tendenz ganz mit diesem, ihrem Vorgänger, 
übereinstimmt. 
Freilich ist zuzugeben, daß die Frage: was denn die ‚‚freirechtliche‘‘ Rich- 
tung eigentlich sei und bedeute, — aus den hierüber gepflogenen Erörterungen 
nicht immer ohne weiteres entnommen werden kann. Es ist aber das Wesen 
jener Bewegung durch zweierlei Aufstellung bestimmt. 
Einmal fordert sie, daß der zwingende Charakter, den manche unserer 
Gesetzesparagraphen tragen, abgeschafft werde. Die Ausarbeitung tech- 
nisch geformter Paragraphen würde danach nur eine vorläufige Bedeutung 
haben. In jedem Einzelfalle, da das im Durchschnitt vielleicht ganz gute Ge- 
setz sachlich mangelhafte Ergebnisse liefert, soll der Richter statt dessen den 
grundsätzlich richtigen Rechtssatz "anwenden; dieses mindestens dann tun, 
wenn die Parteien es beantragen. Es würde die Stellung des Richters von der 
des Prätors im alten Rom immerhin verschieden sein; denn dieser durfte zwar 
in seiner Rechtsprechung von dem geformten Gesetze abweichen, aber nur in 
Gestalt eigener Rechtssätze (Edikte), die er während seines Amtsjahres an 
Stelle der überlieferten Regeln beobachtete. 
Mit jener Forderung sagt die freirechtliche Richtung nicht, daß der Richter 
über dem Gesetze stehen solle. Sie verlangt gerade, daß das Gesetz den Richter 
dahin anweisen solle, die geformten Paragraphen stets dahin nachzuprüfen, 
ob sie im besonderen Falle auch mit ‚Treu und Glauben‘ oder der „Billigkeit‘“ 
zusammenstimmen. Das würden jene in ausnahmsloser Weise fordern, gegen- 
über dem gewünschten Zustande unseres überlieferten Rechtes. 
Das heute bei uns geltende Recht hat in seinen verschiedenen Abteilungen 
von diesen beiden Mitteln des zwingenden und des nachgiebigen Rechtes 
einen verschiedenen Gebrauch gemacht. Dem Strafrecht ist zurzeit charakte- 
ristisch, daß die Frage des Eintrittes der Strafbarkeit einer Handlung, nach 
der herrschenden Lehre, ausschließlich nach technisch geformten Satzungen 
bejaht werden darf, während freilich Art und Maß der zu erkennenden Strafen 
regelmäßig in übergroßer Auswahl dem Richter zur Verfügung gestellt werden. 
Umgekehrt ist im Verwaltungsrecht und besonders in der neuzeitlichen Ver- 
waltungsgerichtsbarkeit in außerordentlich weitem Umfange von dem Ver- 
weisen auf Urteilen nach ‚„Zweckmäßigkeit‘‘ Gebrauch gemacht worden, 
worunter verständlicherweise nur ein Entscheiden nach grundsätzlich rich- 
tigen Regeln, die in der konkreten Sachlage auszuwählen seien, gemeint sein 
kann. Im neuen bürgerlichen Rechte endlich ist im wesentlichen ein mittlerer 
Standpunkt eingenommen worden und neben dem scharf ausgemeißelten Grund- 
stock technisch geformter Satzungen an vielen Stellen und in bedeutsamer 
Weise die Auswahl des ım besonderen Falle richtigen Rechtes vorgeschrieben 
worden. Dabei ist immer acht zu haben, daß der praktische Jurist jene prin- 
zipielle Auswahl nur dann vornehmen darf, sobald das Gesetz selbst es an- 
ordnet. In diesem Sinne ist die gelegentlich sogar in Entscheidungen unserer
	        
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