F. Die Ausführung des Rechtes. II. Die Praxis des Rechtes. 6I
Gerichte vorkommende Berufung auf ‚das das Bürgerliche Gesetzbuch be-
herrschende Prinzip von Treu und Glauben‘ einfach falsch. Beispiels-
weise hat ein Schuldner eine bestehende Verpflichtung zwar nach Treu und
Glauben auszuführen (BGB. 242), aber die Frage, ob ein Rechtsgeschäft
zustande gekommen ist, darf in ihren gesetzlichen Voraussetzungen
nach geltendem Rechte nur formalistisch beantwortet werden (sofern also
nicht die Voraussetzungen einer Willenserklärung, z. B. einer Kündigung einem
vorliegenden Vertrage zu entnehmen und in dessen Auslegung nach BGB.
157 nach Treu und Glauben zu bestimmen sind).
Ob nun ein Gesetzgeber in besonderer Lage lieber das Mittel der zwingen-
den Formung von Paragraphen oder den Befehl der eigenen Besinnung der
Beteiligten auf die hier grundsätzlich richtige Möglichkeit der Entscheidung
wählen soll, das läßt sich nicht allgemeingültig angeben, sondern ist selbst
wieder nur eine konkrete Anwendung des Gedankens der Richtigkeit
eines Rechtes auf historisch besondere Verhältnisse. Es würden die Eigen-
schaften der Rechtsgenossen und der zur Schlichtung ihrer Händel berufenen
Personen zu beachten sein, näher: die Befähigung und die Übung, unter den sich
beschuldigenden und verklagenden Strebungen entgegengesetzten Zieles die
richtige Auswahl nach grundsätzlicher Betrachtung zu treffen; und
nicht minder: die Verbreitung und die Stärke desguten Willens zum Rich-
tigen. Wo solche Fähigkeit und solche Kraft fehlt oder sich schwach zeigt,
da ist es begreiflich, wenn nur mit Bedenken ein weitgehender, unmittelbarer
Hinweis auf gelindes Recht aufgenommen wird.
Im besonderen bestehen gegen die oben gekennzeichnete Forderung der
freirechtlichen Schule, daß alles „zwingend‘ geformte Recht zu be-
seitigen sei, in unseren Zuständen unwiderlegte Bedenken. Das Abschaffen
zwingender Formalitäten wird bei Wechsel, Scheck und anderen Wertpapieren
einer Streichung dieser zweckmäßigen Hilfsmittel des Verkehrs gleichkommen,
bei Grundbuch, Testament und weiteren Geschäften eine Unsicherheit hervor-
rufen, die eine Häufung von Mängeln bedeuten müßte. Die gleiche Erwägung
greift bei dem zwingenden Charakter mancher Fristsetzungen, besonders im
Verjährungsrechte Platz; während die Nachprüfung des Einflusses der Alters-
grenzen für die Handlungsfähigkeit, im bürgerlichen wie im öffentlichen Rechte,
in jedem einzelnen Falle geradezu unmöglich erscheinen muß. Ein guter Ge-
setzgeber wird — wie es schon Platon im ‚„Staatsmanne‘‘ ausführt — von bei-
den Mitteln der Rechtsetzung Gebrauch machen: von dem zwingend und dem
nachgiebig bestimmenden Rechte.
In zweiter Hinsicht will die freirechtliche Bewegung eine Methode zum
Auffinden des richtigen Rechtes bieten. Soweit sie sich damit gegen das viel-
fach übliche Heranziehen der „herrschenden Anschauungen‘‘ wendet, ist sie
ganz im Rechte. Denn diese sind meist nur unsicher festzustellen und lassen
es immer offen, ob denn nun sie gerade in Wahrheit grundsätzlich richtig
sind (E. 4; vgl. D. ı). Dagegen ist der Hinweis auf ein ‚‚freies‘‘ Gefühl ganz
ungeeignet, um die Aufgabe zu lösen: das innerlich richtige Begehren aus den
Beseitigung
alles zwingen-
den Rechtes,
„Freies"
Urteilen.