68 RUDOLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
schieden. Es gab während des ganzen Mittelalters im Grunde kein deutsches,
sondern nur sächsisches, schwäbisches, fränkisches Privatrecht usf. Innerhalb
der einzelnen Stammesländer setzten sich wiederum zahlreiche örtliche Rechts-
verschiedenheiten durch. Eine naturalwirtschaftliche Zeit hat kein Interesse
an einheitlicher Rechtsgestaltung für größere Gebiete. An jedem einzelnen
Orte gelten die dort üblichen Besitzformen. Solange der Verkehr nicht ein-
greift, erscheint es als gleichgültig, welche Besitzformen an anderen Orten in
Kraft sind. Das bäuerliche und junkerliche Privatrecht des Mittelalters be-
harrt daher auf dem Boden des Partikularismus. Der Gedanke eines deut-
schen Rechtes war noch nicht erwacht. Er dämmerte auf in der Kapitularien-
gesetzgebung Karls d. Gr. Aber nur, um wieder zu verschwinden. Das deut-
sche Kaisertum war solchem Erbe nicht gewachsen.
Bürgerliches Der geborene Träger der Idee eines einheitlichen deutschen Rechts war
Recht: der deutsche Bürgersmann, der deutsche Kaufmann. Er verlangt grundsätz-
lich überall gleiches Recht. Er lebt vom Verkehr, und der Verkehr wird durch
örtliche Rechtsverschiedenheit behindert. Mit dem Ende des Mittelalters erhob
sich auch in Deutschland die Geldwirtschaft. Der geldwirtschaftliche Ver-
kehr zog im 15. Jahrhundert aus den Toren der Städte auf das platte Land
hinaus, um auch den Grundbesitz in Geld zu verwandeln. Städtisches, bürger-
liches Wesen gewann Gewalt auch über den Landmann. Zugleich trat die ge-
lehrte, in den Städten sich niederlassende humanistische Bildung an die Stelle
der teils höfischen, teils klerikalen Bildung des Mittelalters. Die Kraft des deut-
schen Kulturlebens wohnte jetzt in der Stadt. Es kam die Zeit des städtischen
(bürgerlichen) Rechts.
Aufnahme des Die Ausbildung eines bürgerlichen Privatrechts ist bei uns in Deutschland
bürgenchen zunächst in der Form der Aufnahme des römischen Rechts vor sich
Rechts. gegangen, die im 16. Jahrhundert sich vollzog. Der innere Grund für diesen
merkwürdigen Vorgang lag in dem unwiderstehlichen Bedürfnis der Zeit einer-
seits nach einem einheitlichen (gemeinen), für das ganze Reich geltenden,
anderseits nach einem bürgerlichen Privatrecht. Die geldwirtschaftliche
Zeit verlangte ein geldwirtschaftliches Recht, ein Recht an erster Stelle nicht
des Besitzes, sondern des Verkehrs. In Frankreich und England war die
große Umwälzung, die von dem ländlich-feudalen Recht des Mittelalters zu
dem bürgerlichen Recht der Zukunft hinüberführte, durch ein starkes nationales
Königtum auf dem Boden des nationalen Rechts vermittelt worden. In Deutsch-
land fehlte es zu der entscheidenden Zeit an einer leistungsfähigen Reichsgewalt.
Das deutsche Kaisertum war im Interregnum gefallen, und die deutsche Rechts-
entwickelung seitdem führerlos sich selber überlassen. So kam es, daß das Be-
dürfnis der Zeit durch eine wissenschaftliche Bewegung befriedigt wurde, die
mit Hilfe eines fremden Rechts, des römischen Rechts, ein gemeines bürgerlich
geartetes Privatrecht für das Deutsche Reich hervorbrachte.
Die Rechtsprechung ging im Laufe des 16. Jahrhunderts von den Un-
gelehrten (Rittern und Bauern) in die Hände von Gelehrten über. Die deut-
schen Rechtsgelehrten aber waren nur des fremden römischen, nicht des deut-