Enotwickelung
der
Partikularrechte,
70 RUDOLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
meinen Recht stand die deutsche Reichsgesetzgebung, die deutsche Rechts-
wissenschaft und das höchste deutsche Reichsgericht. Die Rechtsprechung
des Reichskammergerichts, die bis in den Ausgang des 17. Jahrhunderts für
ganz Deutschland von hochbedeutendem Einfluß war, stand grundsätzlich auf
dem Boden des gemeinen römischen Rechts; nach Partikularrecht ward nur
erkannt, wenn die Partei bestimmtes positives, zugleich ‚‚leidliches und ehr-
bares‘‘ Ortsrecht nachzuweisen imstande war. Gerade durch die Rechtsprechung
des Reichskammergerichts ist die Aufnahme des römischen Rechts, d.h. die
Einfügung des römischen Rechts in die „Lücken‘‘ der deutschen Partikular-
rechte an erster Stelle bewirkt worden. Die Praxis des Reichskammergerichts
war nur ein Ausdruck der die Rechtswissenschaft von damals beherrschenden
Strömung. Die deutschen Partikularrechte blieben von der Wissenschaft ver-
lassen. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann, insbesondere
auf dem Gebiete des sächsichen Rechts, eine juristische Literatur auch parti-
kularrechtlichen Bildungen das Licht und die Lebenskraft wissenschaftlicher
Behandlung mitzuteilen, aber wiederum nicht, ohne daß dies Licht durch ein
römisch gefärbtes Glas hindurchgegangen wäre.
Sonne und Wind waren durch das ganze 16. und 17. Jahrhundert auf der
Seite des gemeinen Reichsrechts, d.h. des fremden Rechts. Noch bis in die
Mitte des 17. Jahrhunderts bedeutete das Reich eine Macht. Das Reich machte
an erster Stelle die deutsche Politik; die Rechtsprechung (Reichskammer-
gericht), sowie die Gesetzgebung des Reiches machten an erster Stelle das deut-
sche Recht. Das ist seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts anders ge-
worden. Seit dem Westfälischen Frieden war die Kraft des alten Reiches ge-
brochen. Der Staatsgedanke lebte von nun an in den Territorien, und die Frage
war: welcher von diesen landesherrlichen Staaten wird einstmals hervorbringen
das neue Reich? Mit dem Sinken des alten Reiches und dem Aufsteigen der
Landesstaatsgewalt mußte ein Rückgang auch des Reichsrechts, d.h. des ge-
meinen Rechtes und ein erneutes Emporkommen der landesrechtlichen, d.h.
der partikularrechtlichen Entwickelung sich verbinden.
Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts übernahmen die deutschen Landes-
rechte, d. h. die Partikularrechte die Führung. Das gemeine Recht stand seit-
dem still. Die neuen Aufgaben, die seit dem 18. Jahrhundert z. B. auf dem Ge-
biete des Realkredits (Hypothekengesetzgebung) sich aufdrängten, wurden aus-
schließlich von der Landesgesetzgebung in die Hand genommen. Die Reichs-
gesetzgebung versagte. Das gemeine Recht fing an zu veralten. Das Parti-
kularrecht ward in stetig steigendem Maße nicht bloß der Vertreter des ein-
heimisch deutschen, sondern, was noch mehr zu bedeuten hatte, zugleich der
Ausdruck des kommenden neuzeitlichen, der Gegenwart entsprechenden
Rechts. Das 18. und das 19. Jahrhundert (1700 bis 1900) sind die Zeit des un-
unterbrochenen Aufsteigens der deutschen Partikularrechte. Auf die Zeit
der Aufnahme des römischen Rechts (16. und 17. Jahrhundert) folgte nunmehr
(18. und 19. Jahrhundert) die siegreiche Gegenbewegung der deutschen Landes-
rechte gegen das fremde Recht.