Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Einleitung. A. Geschichtliches. 7ı 
Zugleich war ein neuer Geist in die deutschen Lande eingezogen, der die 
Segel der Landesgesetzgebung mächtig schwellte: der Geist der Aufklärung. 
Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts ist die Vernunft des Individuums als 
die größte Macht in der Geschichte entdeckt worden. Sie hat die Geheimnisse 
des Weltalls enträtselt. Sie vermag, wie die Naturgesetze der Weltkörper, so 
auch die Naturgesetze des gesellschaftlichen Körpers, das Naturrecht, Vernunft- 
recht zu entdecken. Sie verlangt ihre Befreiung von der Überlieferung, um an 
die Stelle des geschichtlichen, zu Unsinn und Plage gewordenen Rechts das 
natürliche, vernünftige Recht der Gegenwart einzusetzen. Das geschichtlich 
Überkommene hat für die Aufklärung keine verbindliche Kraft. Die Gegen- 
wart gehört sich selbst. Es gilt die Abschüttelung der Last der Jahrhunderte, 
die Befreiung der Lebendigen von den Toten, der Gegenwart von der Vergangen- 
heit. Ein revolutionäres Zeitalter nimmt seinen Anfang; revolutionär, weil die 
Autorität der Überlieferung für immer zerbrochen ist. 
Die gesetzgebende Gewalt empfing den großen Beruf, das Veraltete, ledig- 
lich Überlieferte zu zerstören und der neuen Zeit ein neues Kleid zu schaffen. 
Die Umwälzung des Bestehenden ward in den deutschen Staaten an erster 
Stelle von oben her, durch die aufsteigende absolute Monarchie bewirkt. 
Auf dem Rechtsgebiete war die Überlieferung, sofern es sich um das Privat- 
recht handelte, mit der Geltung des römischen Privatrechts, des Pandekten- 
rechts, als eines gemeinen deutschen Rechts gleichbedeutend. Die Empörung 
gegen die Vergangenheit mußte als Empörung gegen das Pandektenrecht sich 
äußern. Es erschien dem 18. Jahrhundert mit Recht als unvernünftig, daß ein 
fremdes, lateinisch geschriebenes, dem gemeinen Manne durchaus unzugäng- 
liches Gesetzbuch, das römische Corpus Juris, in der Gegenwart praktisch gelten- 
ıdes Recht zu sein beanspruchte. Um so mehr, da der Inhalt des fremdsprach- 
lichen Gesetzbuches durch eine inzwischen allmählich ins Unendliche ange- 
schwollene Kontroversenliteratur mehr verdunkelt als aufgeklärt worden war. 
Es erhob sich die Losung: Weg Corpus Juris, weg Pandekten! Weg mit dem 
fremden Gesetzbuche, damit an die Stelle des lateinischen ein deutsches Ge- 
setzbuch tretel 
Die Losung des Aufklärungszeitalters (das noch heute nicht abgelaufen 
ist) war die Kodifikation. 
Das Wesen der Kodifikation ist ein doppeltes: einmal die Abschaffung des 
gesamten bisherigen Rechts (für das zu kodifizierende Rechtsgebiet); zum andern 
die Abfassung eines das Ganze zusammenfassenden Gesetzbuches, das nun- 
mehr ausschließlich das zu kodifizierende Rechtsgebiet beherrscht. Die Kodi- 
fikation macht tabula rasa mit der Vergangenheit. Der Zusammenhang mit 
der Geschichte und all ihren Streitfragen soll (wenn möglich!) verschwinden 
und das Recht der Gegenwart in ein einziges Buch (code) zusammengefaßt 
werden, das (wenn möglich!) lediglich aus sich selber und durch sich selber ver- 
ständlich sei. So ward für das Strafrecht ein Strafgesetzbuch, für das Gerichts- 
verfahren ein Prozeßgesetzbuch, für das Privatrecht ein Privatrechtsgesetz- 
buch (bürgerliches Gesetzbuch) gefordert. Das römische Corpus Juris civilis 
Die Aufklärung. 
Kodifikationen,
	        
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