Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Einleitung. A. Geschichtliches. 73 
einheitlichen unteilbaren nationalen Staat der Gegenwart verwandelte, war 
inzwischen in Frankreich gemacht worden. Die französische Revolution schuf 
das französische Volk als ein einheitliches Volk und den französischen Staat 
als einen nationalen Einheitsstaat. Napoleon I. trat das Erbe der französischen 
Revolution an. Er entfesselte die Kraft des französischen Volkstums. Er organi- 
sierte den Einheitsstaat. Dem französischen Einheitsstaate gab er das einheit- 
liche französische Recht. Im Jahre 1804 veröffentlichte er den code civil 
des Frangais, die noch heute in Geltung stehende Kodifikation des französi- 
schen Privatrechts. Sein Werk war an erster Stelle die Beseitigung der vielen 
bis dahin in Nord- wie in Südfrankreich gültig gewesenen Partikularrechte 
(coutumes). Das römische Recht war in Frankreich nicht in der Weise rezipiert 
worden, wie bei uns. Es gab dort kein gemeinsames auf fremder Wurzel be- 
ruhendes Privatrecht, das abzuschaffen gewesen wäre. Es gab trotz der die 
Rechtseinheit vorbereitenden monarchischen Gesetzgebung des ancien regime 
nur eine Menge von Coutumes, also von Partikularrechten, deren Ursprung in 
die Zeit der mittelalterlichen politischen Auflösung zurückreichte. Dieser Rechts- 
bestand ward durch Napoleon I. rasiert. Alle diese Partikularrechte mußten 
vor der Einheit des französischen Volkes und der Einheit des französischen 
Rechts verschwinden. So trat der code civil von 1804 als das erste nicht bloß 
kodifizierende, sondern zugleich uniformierende Gesetzbuch auf. Im ganzen 
Umkreis des französischen Staates gab es fortan nur noch ein einziges Privat- 
recht: das neue Privatrecht des code civil. Hier war wirklich mit der abgestor- 
benen Vergangenheit gebrochen und ein lediglich den Forderungen der Gegen- 
wart entsprechendes Recht geschaffen worden. Dem nationalen Staate ent- 
sprach das nationale Recht. 
Die gesamte folgende Kodifikationsbewegung ist durch das Vorbild des 
code civil bestimmt worden. Im linksrheinischen Deutschland blieb der code 
civil auch nach Beseitigung der französischen Fremdherrschaft in Kraft. Hier 
ward durch das französische Gesetzbuch endgültig zugleich das gemeine Pan- 
dektenrecht und die Menge der Partikularrechte aufgehoben. Im Großherzog- 
tum Baden ward 1809 eine Übersetzung des code civil als badisches Land- Badisches 
recht (mit einigen auf die agrarischen Verhältnisse bezüglichen Zusätzen) ver- Kandrecht, 
öffentlicht unter Aufhebung sowohl des gemeinen Pandektenrechts, wie auch 
der zahlreichen bis dahin in Baden gültigen Ortsrechte: ein badischer Staat, 
ein badisches Recht. Als erste selbständige Kodifikation folgte auf den code 
civil das österreichische bürgerliche Gesetzbuch von 1811. Die Vor- Österreichisches 
arbeiten zum österreichischen Gesetzbuche gehen bis in die Tage der großen en 
Kaiserin Maria Theresia zurück. Der Abschluß erfolgte erst jetzt, und zwar 
unter Einwirkung des durch das französische Gesetzbuch gegebenen Vorbildes. 
Inhaltlich beruht das österreichische Gesetzbuch einerseits auf dem gemeinen 
Pandektenrecht von damals, andererseits auf der österreichischen Landes- 
gesetzgebung. Das Moderne am österreichischen Gesetzbuch ist, daß es gleich 
dem code civil alles bisherige Recht, nicht bloß das gemeine Recht, sondern 
ebenso auch die sämtlichen Partikularrechte Österreichs aufhebt. Soweit nicht
	        
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