Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Einleitung. A. Geschichtliches. 77 
ersten Entwurfs) mit Motiven. Schon dieser erste Entwurf bedeutete eine her- 
vorragende Leistung, nicht bloß als Werk gewissenhafter Sorgfalt, sondern 
auch als Ausdruck gesetzgeberischen Könnens. Der Kern des bürgerlichen Ge- 
setzbuchs ist durch ihn geschaffen worden. Trotzdem befriedigte das Werk 
nicht, sowohl wegen seiner schwerfälligen Form, wie wegen seines in manchen 
Stücken doktrinären Inhalts. Ein Sturm des Widerspruchs erhob sich. Es war 
bald klar, daß der Entwurf einer Umgestaltung bedürftig sei. Ende 1890 ward 
vom Bundesrat eine zweite Kommission niedergesetzt, die mit der Umarbeitung 
betraut wurde. Aus ihren Beratungen ist der zweite Entwurf hervorgegangen, 
auf dessen Inhalt sowohl die am ersten Entwurf geübte Kritik wie der inzwischen 
wissenschaftlich zu stärkerer Geltung gelangte Geist des deutschen Rechts und 
nicht zum geringsten das Wachstum der sozialen Überzeugungen innerhalb 
der gebildeten Kreise entscheidenden Einfluß ausgeübt haben. Der zweite Ent- 
wurf ward mit wenig Änderungen (sog. dritter Entwurf) vom Bundesrate an- 
genommen und dem Reichstage vorgelegt. Eine Reichstagskommission hat 
das Ganze nochmals durchgearbeitet und an manchen Stellen die Forderungen 
ausgleichender sozialer Gerechtigkeit zu noch stärkerer Geltung gebracht. Dann 
ward das Werk vom Reichstag und Bundesrat angenommen, und am 18. August 
1896 setzte Kaiser Wilhelm II. seinen Namenszug unter das bürgerliche Gesetz- 
buch, sowie unter ein gleichzeitig erlassenes Einführungsgesetz. Eine ganze 
Reihe von weiteren, mit dem bürgerlichen Gesetzbuch zusammenhängenden, 
ergänzenden Reichsgesetzen ist sodann ausgearbeitet worden. Mit dem I. Januar 
1900 trat das neue Recht in Kraft. 
Jetzt endlich war der Gegensatz von gemeinem und Partikularrecht im 
Grundsatz überwunden. Die unzähligen Rechtsverschiedenheiten, welche letzt- 
lich in längst verschwundenen politischen Zuständen wurzelten, wichen endlich 
vor der Sonne eines neuen einheitlichen Rechts. Dem nationalen deutschen 
Einheitsstaate ward das nationale deutsche Einheitsrecht: ein Volk, ein natio- 
nales Wirtschaftsleben, ein Reich, ein Recht! Mit dem Gegensatz des partiku- 
lären und des gemeinen Rechts verschwand zugleich der Gegensatz des römi- 
schen und des einheimischen Rechts. Um 1500 war das römische Recht bei uns 
in Geltung getreten, nach 400 Jahren trat es mit dem I. Januar 1900 endlich 
für ganz Deutschland außer Kraft. Die Zeit der Fremdherrschaft war vorüber. 
Wir bedurften des: fremden bürgerlichen Rechts nicht mehr. Auf dem durch 
die Landesgesetzgebung vorbereiteten Boden war durch das neu gegründete 
Deutsche Reich ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch, ein bürgerliches 
Privatrecht neuzeitlich-deutscher Art geschaffen worden. 
Wie einst der Fall des mittelalterlichen Kaisertums den Fall des mittel- 
alterlichen deutschen Rechts durch Aufnahme des fremden Rechts nach sich 
gezogen hatte, so hat jetzt am Ende des 19. Jahrhunderts die Wiedergeburt 
des deutschen Kaisertums mit der Wiedergeburt des deutschen Rechts kraft 
innerer Notwendigkeit sich verbunden.
	        
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