Full text: Deutschland und der Weltkrieg.

  
324 Paul Darmstädter 
  
seln, Cayennc, ein paar ostindische Städte, die Insel Réunion und die 
damals recht unbedentende Senegalkolonic, im ganzen kaum 100 000 qkm 
mit höchstens 1 Million Bewohnern. Die furchtbare Erschöpfung, in 
der sich das Land nach den napoleonischen Kriegen befand, verbot es 
zunächst, an eine Machterweiterung in Europa zu denken; aber schon in 
der Restaurationszeit begann man mit dem Aufsbau eines neuen über- 
secischen Reichs; das Julikönigtum und das Zweite Kaiserreich sind auf 
dieser Bahn weiter fortgeschritten. In Algerien und an der westafrikani- 
schen Küste, in Madagaskar und am Roten Meer, in der Südsee und 
in Hinterindien wurden die Grundlagen für ein neues Kolonialreich 
gelegt. In der Levante, namentlich in Syrien und Agypten, suchte man 
Einfluß zu gewinnen, ja sogar in Amerika, wenn auch in anderer Form, 
dic alte Tradition wiederaufzunehmen. Wenn die französische Welt- 
politik in dieser Zeit nicht noch größere Ergebnisse erzielt hat, so liegt 
dies an dem trotz der „Entente cordiale“ vorhandenen Widerstande 
Englands, dann aber auch daran, daß Frankreich die Erreichung der 
alten Ziele seincr europäischen Politik nie völlig aus dem Auge verloren 
hat. Im Südosten wurde die natürliche Grenze 1860 wiedergewonnen, 
im Nordosten hoffte man sie 1870 zu erobern. Diese Hoffnung ging indes 
nicht in Erfüllung: Frankreich wurde vom Abein bis zu den Vogesen 
zurückgedrängt und verlor überdies einen Teil des Moselgebiets. Die 
Gründung des Oeutschen Reiches machte seinen auf die Beherrschung 
Mitteleuropas gerichteten Absichten ein Ende. 
ODer Frankfurter Frieden vernichtete so die Hoffnungen, die die Fran- 
zosen mehrere Jahrhunderte gehegt und zum Teil bereits verwirklicht 
hatten. Kein Wunder, daß sie alle Anstrengungen darauf richteten, 
diesen Frieden, den viele nur als Waffenstillstand ansahen, rückgängig 
zu machen. Man suchte mit allen Mitteln die Erinnerung an die Frank- 
reich entrissenen Landschaften lebendig zu erhalten und zugleich den 
Haß gegen den Sieger zu schüren: Mit den verlorenen Provinzen, deren 
Einwohner man bis dahin ihrer mangelhaften Kenntnis der französi- 
schen Sprache wegen verspottet hatte, wurde ein wahrer Kultus getrie- 
ben, in den Schulen, in den Zeitungen, in der Literatur wurden die 
„armen“ Elsässer und Lothringer, „die unter der deutschen Unter- 
drückung seufzten“, als Märtyrer hingestellt, und die Wiedergewin- 
nung der verlorenen Brüder als dic heiligste Aufgabe Frankreichs be- 
zeichnet. Kein Schulbuch, keine Landkarte, ja nicht einmal wissenschaft- 
liche Bücher und Zeitschriften anerkannten den durch den Frankfur- 
ter Frieden geschaffenen Rechtszustand. Es gab in Frankreich, von Jcan 
Jaures abgesehen, kaum einen leitenden Politiker, der sich mit den 1871
	        
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