326 B Paul Darmstädter
dem Auge verloren. Ein so weitblickender Staatsmann wie Jules Ferry,
der doch nur die gemeinsame Arbeit mit Deutschland auf genau umschrie-
benen Gebieten wünschte, stieß anf die erbittertste Gegnerschaft vieler sei-
ner Landsleute, und nach seinem Sturze (1885) kam cs zu einem heftigen
Wiederaufleben der Revanchestimmung, dic in dem zeitweiligen Tri-
umph ciner so überaus fragwürdigen Persönlichkeit, wie es der General
Boulanger war, gipfelte. Es war nur der großen Mäßigung Deutsch-
lands zu verdanken, daß damals (1886/87) cin Krieg vermieden wurde.
Ein hervorragender amerikanischer Historiker sagt in einem Buche
über die Entstehung des Weltkrieges von 1914: „Die Franzosen sind
scit 40 Jahren zum Kriege mit Deutschland bereit gewesen, sowie sie nur
eine günstige Gelegenheit gefunden hätten.“2) Die französische Diplo-
matic hat sich seit 40 Jahren bemüht, eine solche günstige Gelegenheit
zu schaffen. Es war den französischen Staatsmännern klar, daß bei der
wachsenden Bevölkcrungsziffer Deutschlands, der stationären Frank-
reichs, keine Aussichten auf Erfolg vorhanden waren, solange Frank-
reich auf seinc eigenen Kräfte angewiesen blieb. Die Anstrengungen der
französischen Diplomatic mußten somit darauf gerichtet sein, eine mög-
lichst starke Koalition gegen Deutschland zustande zu bringen. Da Öster-
reich, auf dessen Bundesgenossenschaft man noch 1870 gerechnet hatte,
sich dem jungen Oeutschen Reiche näherte, kam Rußland in erster Linie
als möglicher Alliierter Frankreichs in Betracht. Schon 1872 machte
der „Temps“ Stimmung für eine Allianz mit dem Zarenreichce.3) Auch
in den Kreisen der deutschen Diplomatie begann man frühzcitig mit
einer solchen Möglichkeit zu rechnen"), besonders, nachdem der russische
Kanzler Gortschakow 1875 in prahlerischer Weise das Verdienst für
sich in Anspruch genommen hatte, Frankreich vor cinem nenuen deutschen
Angriff gerettet zu haben.5) Als sich nach dem Berliner Kongreß die
Bcziehungen zwischen Deutschland und Rußland zusehends verschlech-
terten und besonders nachdem das Bündnis zwischen Deutschland und
Österreich abgeschlossen war, wurde der Abschluß einer Allianz zwischen
2) Jart, The war in Europe, S. 139. Damit vergleiche man die gänzlich ver-
zerrte Darstellung der friedlichen und harmlosen französischen Politik in Oxforc
Pamphlets Ar. 2 von F. Morgan und H. W. C. Davis. Jedes französische Buch
strast dies elende englische Machwerk Lügen.
3) Bourgeois in der Cambridge Modern History XII. S. 97.
4) Hohenlohe, Denkwürdigkeiten 2, 152 u. a. s.
5) Die hundertmal widerlegte törichte Legende findet sich natürlich auch in
den Oxlord Pamphlets. Nr. 2, p. 9. Aur hat neben Rußland auch das edle
England Frankreich gerettet, eine Vorausahnung der Triple-Entente. Vgl. da-
gegen Albin, I'/Allemagne et la France en Europe 1885—1894. p. 228.