Belgien und die großen Mächte 351
verflüchtigen. Indem sich dann im 16. Jahrhundert Kaisertum und Lan-
deshoheit über die Aiederlande im Hanse Habsburg vereinigten, schien
es anfangs, als sollten für den „burgundischen Kreis“ (1512) die Zugcl
wieder straffer angezogen werden. Allein das habsburgisch-dynastische
Interesse stellte sich dem kaiserlichen entgegen, und in der endgültigen
Regelung Karls V. von 1548 nahm dic Loslösung vom Reichskörper
zugunsten landcsherrlicher Selbständigkeit ihren Fortgang. Immerhin
stand dic rechtliche Zugehörigkeit zum Reiche auch fernerhin außer Zwei-
fel. Das dem westfälischen Kreis angeschlossenc Fürstbistum Lüttich, das
meist von bayrischen Prinzen regiert wurdce, blieb sogar ein ebenso le-
bendiges Glied des Reiches wic andere Fürstentümer. Erst das Zeit-
alter der Revolutionskriege hat in den Jahren 1792 und 179 die Los-
reißung der belgischen Aiederlande von Deutschland vollendet.
Dicse Tatsachen werden leicht nur allzuschr außer acht gelassen. Ge-
wiß sehnen wir uns nicht zurück nach dem Heiligen Römischen Reiche Denut-
scher Nation; gleichwohl wärc es töricht, in unseren Beziehungen zu den
germanischen Stammesgenossen jenscits der heutigen Reichsgrenzen den
hohen ideellen Wert gemeinsamer Vergangenheit und einstiger staatlicher
Zusammengchörigkeit unterschätzen zu wollen; was wärc denn etwa das
belgische Volk ohne den Kitt historischer Erinnerungen? Man hat es in
den jüngsten Balkankriegen neu erlebt, daß bei Bulgaren, Griechen und
Serben Hinweise auf sehr ferne Bergangenheiten modernc, sich kreu-
zende Machtansprüche trugen und anfenerten. Wir unsererseits sind
jederzeit weit davon entfernt gewesen, solche historischen Rechte geltend
zu machen; aber wenn es für den Franzosen fast als etwas Selbstver-
ständliches gilt, für die Grenzansprüche seines Landes auf das alte
Gallien zurückzugreifen, so möchte der späterc, fast neunhundertjährige
Besitz denn doch für uns ganz anders in die Wagschale fallen.
Den Belgier berühren diese Erinnerungen freilich wenig. Für
ihn hat, zum mindesten in früherer Zeit, lokale Autonomic stets höher
im Kurse gestanden als staatliche Souveränität. Einec nicht allzu
drückende Abhängigkeit von einer höheren Staatsgewalt hat er meist
erträglich gefunden, wenn nur die örtliche Selbständigkeit, dic überlicfer-
ten Gewohnheiten und Freiheiten geschont wurden, und das wirtschaft-
liche Gedceihen gesichert blieb. Wurden freilich diese Güter angctastct,
hat er sich zäh und energisch zur Wehr gesetzt; aber das Heldenzeitalter
seiner Geschichte, zugleich die Glanzepoche seiner Kulturentfaltung, be-
gann erst, als die deutsche Reichsgewalt schon im Sinken war, und
ohne sich vicl um diese staatliche Abhängigkeit zu kümmern, sah er sich
inmitten der großen Weltgegensätze im wesentlichen doch auf sich selbst