Rußland und der Panslawismus 415
stark diskreditiert war, vielleicht auch, weil man so die Aufmerksamkeit
der österreichischen Regierung täuschen wollte, fiel aber bald der erste
Reif.
Durch die Revaler Zusammenkunft im Mai 1908 wurde der Aus—
bruch der jungtürkischen Revolution beschleunigt. Im Juli 1908 er—
reichten die Jungtürken die Wiederherstellung der türkischen Konstitution
aus dem Jahre 1876. Von falschen Freunden beeinflußt, dachten die
Jungtürken daran, auch das Vasallitätsverhältnis Bosniens zur Pforte
durch Einberufung von Vertretern aus diesem Lande in das tür-
kische Parlament wiederherzustellen. Die Folge davon war die An-
nexionspolitik durch Österreich-Ungarn im Herbste 1908. Die öffent-
liche Meinung in Rußland, die niemals darüber aufgeklärt worden
war, daß Rußland selbst einige Male in vergangenen Fahren die
Zustimmung zu diesem rein formalen Akt gegeben habe, schäumte auf.
Dazu kam die lebhafte serbische Agitation in Rußland, die die Gemüter
noch mehr erhitzte. Den Prinzipien des Neoslawismus getren, hätten
Tschechen, Allpolen und Slowenen gegen diese Annexionserklärung in
den gesetzgebenden Körpern Front machen müssen. Dazu fehlte man-
chen der Mut, und sic begnügten sich mit zwiespältigen Erklärungen, an-
dere wiederum wie die Allpolen stellten sich auf Seite der Kronc. Oiese
Enttäuschung mag auch mitbestimmend gewesen sein für die Nachgiebig-
keit des Ministers des Außern Rußlands, P. A.zvolskij, am Ende der
Anncxionskrisc.
Obwohl Aehrenthal bei der Zusammenkunft in Buchlau schon im
September 1908 die Zustimmung IZzvolskijs zur Annexion mit der
Gegenleistung, der Öffnung der Dardanellen für die Kriegsschiffe Ruß=
lands seinerseits zuzustimmen, erhalten hatte, hat Izvolskij angesichts
der hochgehenden Wogen der panslawistischen Bewegung diesen Schritt
verborgen gehalten und sich sofort an die Spitze der diplomatischen Aktion
Englands, Frankreichs und Rußlands gegen die Anerkennung der An-
nexion gestellt. Sein Ehrgeiz war dadurch empfindlich getroffen, daß
England von der Öffnung der Dardanellen nichts wissen wollte, er also
um dic allerdings beträchtliche Kompensation, die Aehrenthal ihm ge-
boten hotte, kam, während der österreichisch-ungarische Minister sein
Kompensationsobjekt in Sicherheit zu bringen drohte. Trotzdem der Di-
rektor des Archives seines Ministeriums, Gorjainow, im Jahre 1907
in seinem Buche „Bosporus und Dardanellen“ den wesentlichen In-
halt des Reichsstädter (1870) und OÖfenpester Abereinkommens (1877)
zwischen Rußland und Österreich-Ungarn mitgcteilt hatte, ging Izvolskij
nach Buchlau, ohne von diesen Verträgen und ihrem Inhalt etwas zu