Rußland und der Panslawismus 419
schon längst Zusagen gemacht, die Sazonov wohl oder übel ratifizieren
mußte. Der Zar suchte durch sein persönliches Eingreifen, durch sein
Telegramm vom 26. Mai 1913 (a. St.), indem er Rußland als die für
das gesamte Slawentum allein gültige oberste Instanz proklamierte, den
Balkanbund zu retten. Österreich-Ungarn sah sich daher genötigt, durch
den Mund des ungarischen Ministerpräsidenten Grafen Tisza zu ver-
künden, daß es nicht gesonnen sei, dieses Protektorat anzuerkennen.
Ubrigens fand dieser Appell des Zaren weder in Sofia noch in Belgrad
eine günstige Aufnahmc. Ende Juni 1913 brach der Kricg zwischen Bul-
garien und seinen Bundcsgenossen, Serbien, Griechenland und Monte-
negro aus, der den Zusammenbruch des Balkanbundecs besiegelte. Zu
den A#icderlagen Rußlands in der albanischen und Skutarifrage kam
nun cinc noch schwerere, die der russischen Diplomatie cine Waffe ent-
wand, die sie doch nur gegen Österreich-Ungarn in erster Linie geschmie-
det hatte. Ihre Wirkung zeigte sich vor allem in dem heftigen Angriffe
der panslawistischen Kreise Rußlands gegen die russische Diplomatic.
Gleich am Beginne des Balkankrieges, noch im Herbste 1912, hattc in
Rußland die panslawistische Bewegung mit erneuerter Wucht eingesctzt.
Die sonderbare Haltung der parlamentarischen Vertreter der Tschechen
und Slowenen in den österreichischen und gemeinsamen Verwaltungs-
körpern, von den übrigen Südslawen gar nicht zu sprechen, schien diesen
russischen Kreisen ein Beweis dafür, daß der Augenblick gekommen sci,
Österreich-Ungarn zu zertrümmern. Aussische Militärs veröffentlichten
gerade damals Studien, dic beweisen sollten, daß dic Hälfte der öster-
reichisch-ungarischen Armec, weil aus Slawen bestehend, überhaupt
nicht in Rechnung zu zichen sci; denn diese hätten kein Interesse, gegen
Rußland zu kämpfen. Aächst der Türkcei sei Österreich-Ungarn gegenüber
Rußland der hilfloseste Staat. Die russische Diplomcktic hätte daher auch
ÖOsterreich-Ungarn gegenüber nicht die geringste Rücksicht zu üben.s0)
Schon früher hatte der russische Senator Grigorij Evreinov in einer
Broschüre #1) den baldigen Verfall der Donaumonarchie als eines anti-
nationalen Staates prophezcit und von der russischen Politik veriangt,
daß sic außer der unerschütterlichen Solidarität mit der großen sla-
wischen Welt offen die Entschlossenheit bekunde, jede günstige Gelegen-
beit der internationalen Lage dazu zu benützen, um Bosnien, Herze-
gowina und den Sandschak mit Serbien und Montenegro zu vereinigen:
30) Gencrai Parensov, „Die militärpolitische Lage Rußlands“ in Slavanskija
lavéstisa Nr. 8 vom 6./19. Jänner 1913, (Oberst) Potockij, Die österreichisch-unga-
rische Armec, vgl. Okrainy Rossij Ar. Ab vom 10./23. Movember 1912, S. 610.
31) Ideologija bliänevostoénego voprosa, St. Petersburg 1911.
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