32 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
lage nötige. Der religiös-sittliche Gedankeninhalt des Christentums, der nach Beseiti-
gung des kirchlichen Supranaturalismus und Albsolutheitsanspruches übrig bleibe,
könne, um den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit zu genügen, nur an eine
Religionsphilosophie angeknüpft werden, welche ihrerseits wiederum auf der Basis
einer umfassenden idealistischen Metaphysik und Geschichtsphilosophie auf dem Wege
erkenntnistheoretischer und pspchologischer Untersuchung des religiösen Phänomens zu
gewinnen sei. Im einzelnen auf die von Troeltsch selbst und anderen unternommenen
Versuche, eine solche christliche Religionsphilosophie zu begründen, hier einzugehen,
müssen wir uns versagen. Es ist bisher auch bei bloßen Programmen und Entwürfen
geblieben, welche alle auf den deutschen Zdealismus irgendwie zurückgehen, und, an sich
betrachtet, bedeutsame und fruchtbare religionsphilosophische Anregungen enthalten.
So erwünscht aber für die Gegenwart die Verbindung der christlichen Dogmatik mit
dem philosophischen Idealismus sein muß, und so bedeutsame Momente speziell die
Troeltsch'sche Religionsphilosophie aufweist, so kann man sich doch nicht verhehlen, daß
bier die Philosophie allerdings die Selbständigkeit der christlichen Erkenntnis aufhebt, an
deren Begründung die Dogmatik des 19. Jahrhunderts ihre beste Kraft gesetzt hat, weil
sie in ihr eine Aufgabe sah, welche unserer Zeit durch das reformatorische Verständnis
des Christentums gestellt ist. So bedeutet diese neueste aus dem Historismus er-
wachsene Position in der Tat eine radikale Umwälzung in der Theologie, eine Natio-
nalisierung derselben, die dazu nötigt, binter Frank und Nitschl, ja Schleiermacher
zurückzugehen. Als solche ist sie auch von allen älteren Richtungen empfunden worden.
Das beweist der heiße Kampf um die Absolutheit des Christentums, den kirch-
lichen Supranaturalismus und die Selbständigkeit der Dogmatik, den vor
allem Ernst Troeltsch gegen fast alle Dogmatiker unserer theologischen Fakultäten
zu führen hatte. Dabei zeigte sich immer deutlicher, daß es sich bei diesem Kampfe
nun doch nicht bloß und nicht einmal in erster Linie um Fragen der Wissenschaft,
sondern um sehr ernste religiöse Differenzen handelte. Oie eindringenden Arbeiten der
neuen Schule zur Geschichte der Reformation und des Protestantismus haben auch
deutlich genug bewiesen, daß ihre religiöse Gedankenwelt und Weltanschauung, wie ihnen
selbst bewußt genug ist, nicht in der Reformation, sondern in der Aufklärung wurzelt.
Alle Theologen des 19. Jahrhunderts, die um Hegel und die um Schleiermacher, der
ältere Liberalismus und die Vermittelungstheologie, die Erlanger und die Schüler Ritschls,
batten unbeschadet großer Gegensätze in der Auffassung des Christentums, doch alle mit
gleicher Energie als einen gemeinsamen Grundbesitz den Absolutheitscharakter und
das reformatorische Wesen des Christentums behauptet. Wir haben es in diesem
„Neuprotestantismus“ mit einer Theologie zu tun, die den Grundgedanken der
Keformation gegenüber ein Abstandsgefühl zeigt, wie es in solcher Stärke auf dem
Boden der evangelischen Kirche noch nicht hervorgetreten ist.
Es ist darum nicht zu verwundern,
wenn die Kirche mit schweren Sor-
gen dieser Entwicklung der Theologie gegenübersteht und die Gefahr empfindet, daß in ihr
Notwendigkeit der Auseinandersetzung.
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