Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

86 
Nachdem das Christentum mit der griechischen Philosophie in 
Berührung gebracht war und von dieser ausgenommen hatte, was bei- 
derseits anpassungsfähig war, konnte es bei der Verdunklung seiner 
Herkunft nicht ausbleiben, daß es nach und nach immer mehr philoso- 
phischen Charakter annahm und dadurch auch immer weitere Kreise mit 
philosophischer Bildung sowohl auf römischem als auch griechischem 
Boden eroberte. 
Daneben war es aber vielleicht auch der christliche Gott, der nicht 
nur dem Gemüt der philosophisch Ungebildeten im Vergleich mit den 
römischen und griechischen Göttern etwas Erhabeneres darstellte, son- 
dern der in seiner Einheit und unfaßbaren Größe auch dem kritischen 
Verstande der Bildung etwas sein mußte, an dem er sich erbauen und 
aufrichten konnte. Anderseits sind es aber auch die gebildeten Kreise 
gewesen, die in dem Bestreben, das aus der sehr lebhaften Phantasie der 
ersten Christen hervorgegangene Metaphysische des Christentums mit 
dem Verstande auszusöhnen, letzteres in der Folge mit allen 
Richtungen und Systemen der griechischen Philosophie verquickt haben. 
Sie sind dadurch für die Entwicklung und die Richtung der christlichen 
Lehre verantwortlich, um so mehr als sie auch gleichzeitig den Grund 
zu den für die Zukunft folgenschweren Lehrstreitigkeiten gelegt haben, die 
der Menschheit sicher mehr Unheil gebracht haben, als die Ethik des 
Christentums gut machen konnte. 
Liegt der Ursprung der ersten philosophischen Spuren unverkenn- 
bar in dem System der Stoiker, so ist es bald darauf die Ideenlehre des 
Platon gewesen, mit der die christliche Lehre verquickt wurde. Dabei 
wurde auch gleichzeitig der Versuch unternommen, das alte Testament 
mehr oder weniger auszuschalten. Auf der anderen Seite waren es 
aber die Judenchristen, die das alte Testament als einen wesentlichen 
Teil des Christentums angesehen haben, den sie nicht preisgeben wollten. 
In dieser ersten Zeit, die kirchengeschichtlich als das Zeitalter der 
apostolischen Väter bezeichnet wird, waren die christlichen Gemeinden 
noch ohne Zusammenhang. Ebensowenig gab es ein einheitliches Glau- 
bensbekenntnis und eine über alles stehende Lehrautorität. Infolge 
der heterogenen Elemente, die das Christentum aus den verschiedenen 
Nationen und aus den verschiedenen Bildungsklassen aufgenommen 
hatte, setzten die Lehrstreitigkeiten auch sobald ein, als dem geschichtlichen 
Jesus nicht mehr nachgeforscht werden konnte. 
Die philosophische Hauptfrage drehte sich in der ersten Zeit um 
die Art der Göttlichkeit Jefu, über die die Meinungen damals schon sehr 
weit auseinander gingen. Die eine Partei, und zwar jedenfalls diejenige 
des gesunden Menschenverstandes, hat nach dem Selbstbekenntnis Jesu 
diesen für einen von Gott erwählten Menschen angesehen, der sich in