Im Reichstage (1870 bis 1874) 101
wollte niemand etwas wissen. Abends war Galatheater für den Schah
von Persien. Der Kaiser wohnte der Vorstellung nicht bei. Der Schah
führte die Kaiserin in die Loge und benahm sich da ziemlich ungeniert.
Er war in schwarzem, mit Diamanten benähtem Rock und der schwarzen
Mütze. Er trägt eine goldene Brille. Im Zwischenakt war in dem großen
Foyer Cercle. Ich stellte mich in die Nähe, als der Schah mittels Dol-
metschers mit Bismarck sprach, den er über vieles auszufragen schien.
Die Antworten, die ihm Bismarck geben ließ, schienen ihn mehrmals in
Erstaunen zu setzen. Er soll sehr lernbegierig sein, und sein Stolz ist, der
Peter der Große für Persien zu sein. Das Ballett „Sardanapal“ war furcht-
bar langweilig, und ich benutzte eine günstige Gelegenheit, um den Brühofen
um 9 Uhr zu verlassen.
6. Juni.
Gestern Abend Soiree in Potsdam im Neuen Palais. Prachtvolle
Gartenbeleuchtung. Der Schah kam etwas spät. Dann Promenade im
Garten und Souper und um ½11 Uhr Rückfahrt nach Berlin. Heute
Reichstagssitzung, wo wir mühsam beschlußfähig waren. Während der
Sitzung kam der Schah für eine Viertelstunde, um sich den Reichstag an-
zusehen.
Heute Abend Fraktionsdiner der Reichspartei für Münster, wobei ich
toastieren muß.
7. Juni.
Das gestrige Bankett für Münster verlief sehr gut. Hermann brachte
die Gesundheit des Kaisers aus, Friedenthal hielt einen wahren Nekrolog
auf Münster, dieser dankte. Dann trank Lucius auf die Gäste und besonders
auf das Präsidium. Ich dankte in einer ziemlich langen Rede, die viel
Anklang fand.
Abends um 10 Uhr war ich dann in der Kommissionssitzung. Heute
Reichstagssitzung und um 5 Uhr Diner bei Bismarck. Nach Tisch lange Kon-
versation um den runden Tisch, wo Bismarck fast immer allein sprach.
Es war von den Versailler Verträgen, von der Stellung der einzelnen
Staaten gegenüber dem Reich, vom Kaisertitel u. s. w. die Rede.
Berlin, 16. Juni 1873.
Freitag den 13. hatte ich ein interessantes Diner bei Minister Delbrück.
Neben einigen Bundesratsmitgliedern und Beamten waren Bismarck und
Eulenburg anwesend, die nach Tisch auf dem Balkon bei der Zigarre in
ein eigentümliches Zwiegespräch gerieten, welches sich darin konzentrierte,
daß Eulenburg Bismarck vorwarf, daß er seine Stellung so zurechtmache,
wie es ihm passe und wie nur er es durchführen könne. Bismarck ver-