104 Im Reichstage (1870 bis 1874)
Wir sprachen lange von dem neuen Oberpräsidenten Nordenflycht, den
Simson sehr rühmt. Wir schieden unter gegenseitigen Freundschafts-
versicherungen.
Um 4 Uhr nach Babelsberg, wo ich mit Prinz Wilhelm von Baden,
dem Prinzen Wilhelm von Württemberg und Eulenburg bei dem Kaiser
aß. Der Kaiser sieht wohl aus, aber er kommt mir doch etwas gealtert
vor. Es ist, als wenn plötzlich das hohe Alter über ihn gekommen wäre.
Bei Tisch war die Unterhaltung sehr lebhaft. Der Kaiser saß oben am
Ende der Tafel, die beiden Prinzen neben ihm, dann Eulenburg und ich
und die übrigen Gäste. Nach Tisch dankte mir der Kaiser für alles, was
ich im Reichstage gewirkt habe. „Ich weiß,“ sagte er, „wo Sie Ihre
Hand darin haben, da geht die Sache gut.“ Ich trennte mich mit Weh-
mut von dem alten Herrn, den ich vielleicht nicht wiedersehen werde.
Hoffentlich erholt er sich.
Aussee, 7. September 1873.
Heute Ankunft Gelzers. Er kam von Gastein, wo er dem Kaiser
über seinen Aufenthalt in Rom Bericht abgestattet hatte.1!) Er ist von
Anfang April bis Ende Juni dort gewesen, um für den Fall des Todes
des Papstes beim Konklave anwesend zu sein. Als der Papst sich erholt
hatte und Gelzers Informationen vollständig waren, reiste er wieder ab.
Er ist über Bern hingereist und hat dort viel mit Welti, dem Mitgliede
des schweizerischen Bundesrats, verkehrt. Er rühmt diesen sehr als einen
in seinen Beziehungen zur Kurie vorsichtigen und energischen Mann. Der
Nunzius hat sich alle Mühe gegeben, die Schweiz von Deutschland zu
trennen. Man hat den Schweizern jedes mögliche Zugeständnis in Aus-
sicht gestellt, wenn sie eine feindliche Stellung gegen das Deutsche Reich
einnehmen wollten. Welti ist darauf nicht eingegangen. Der österreichische
und der bayrische Gesandte haben diese Intrigen eifrigst unterstützt.
Wir kamen dann auf Gelzers Stellung zum Kaiser und zu Bismarck.
Gelzer will nicht wieder nach Rom gehen, wenn ihn Bismarck nicht besser
behandelt als bisher. Vom Kaiser sagt Gelzer, daß er sehr wohl aussehe.
Sein Gedächtnis lasse aber sehr nach und er habe nicht mehr die nötige
Energie, um Bismarck entgegenzutreten, oder etwas zu beschließen, ohne
Bismarck vorher gefragt zu haben. Diese Hoffnung müsse man ganz
aufgeben. Ich habe sie schon lange nicht mehr gehegt. Wilmowski be-
hauptet, der Kaiser spreche nicht mehr mit der Kaiserin über kirchliche
Dinge. Gelzer bezweifelt das; ich auch.
1) Staatsrat Gelzer verweilte während des Kulturkampfs im Auftrage des
Kaisers und des Großherzogs von Baden wiederholt in Rom, um über die dortigen
Verhältnisse Erkundigungen einzuziehen und Berichte zu erstatten.