Im Reichstage (1870 bis 1874) 119
Wenig günstig würde für uns die Monarchie unter den Orleans sein.
Chambord hält er nicht für wahrscheinlich, da dieser keine Lust habe, sich
den Unannehmlichkeiten der Regierung auszusetzen. Die Bonapartes seien
für uns von allen Monarchen Frankreichs noch die besten. Könne aber
der jetzige Zustand fortdauern, so sei das besser.
Ueber die allgemeine europäische Politik äußerte er sich nachdrücklich
dahin, daß wir ein wesentliches Interesse hätten, die guten Beziehungen
zwischen Oesterreich und Rußland zu erhalten. Kämen diese in Streit, so
hätten wir zwischen beiden zu optieren, und das sei schlimm.
In bezug auf die französische Politik erwähnte er die Tendenzen
Frankreichs, mit Tunis anzubinden und sich da festzusetzen. Das sei gut
für uns, denn Frankreich werde sich da engagieren und dort festgehalten
werden. Allerdings leide der Handel der Deutschen in Tunis. Bismarck
schien aber das politische Interesse höher anzuschlagen als diese Handels-
interessen.
Bismarck wünscht, daß ich so bald als möglich nach Paris gehen möchte.
Berlin, 6. Mai 1874.
Heute Morgen im Auswartigen Amt. Studien in den Akten. Russells
Interpellation ) mit Bucher und Styrum besprochen und zu dem Resultat
gekommen, daß sie von Morier inspiriert war. Dann besuchte ich die
Fürstin Bismarck, um sie zu bitten, mich bei Bismarck zu melden. Darauf
Einladung zum Diner. Hier fand ich den Bruder Bismarcks. Er ist
Bismarck ins Harmlose des märkischen Rittergutsbesitzers übersetzt. Bei
Tisch erzählte Bismarck vom Jahre 1870, von seiner Besprechung mit
Roon und Moltke, die über die Renunziation des Fürsten Hohenzollern
und die Nachgiebigkeit des Königs außer sich waren. Dann das Tele-
gramm von Abeken und Bismarcks abbreviierte Veröffentlichung, wodurch
der Krieg unvermeidlich wurde. Dann von Oesterreich 1866 und den
Schwierigkeiten bei dem Friedensschluß. Bismarck fragte Moltke: „Was
würden Sie tun, wenn die Franzosen über den Rhein gingen?“ „Ich
würde,“ sagte Moltke, „mit 100000 Mann die Elblinie decken und gegen
Frankreich marschieren.“ Das schien Bismarck nicht klug, deshalb schloß
er Frieden, da man von Oesterreich das hatte, was man brauchte, nämlich
freie Hand in Deutschland.
Nach Tisch erzählte ich, daß die Kronprinzeß mich aufgefordert habe,
ihr zu schreiben. Er hält das für Phrase und rät davon ab, weil das
1) Lord Russell interpellierte die Regierung im Oberhaus am 4. Mai über das
Verhältnis Frankreichs zu Deutschland und die Aussichten auf Erhaltung des
Friedens.